1 Jahr Gratis-Zahnspange: Kritik an Ost-West-Gefälle bei anerkannten Leistungen

Die im vergangenen Jahr in Österreich eingeführte Gratis-Zahnspangenbehandlung bei schweren Fehlstellungen etc. hat sich sozial positiv ausgewirkt. Das Konstrukt leide aber an anhaltend an Detailproblemen, kritisierten am Donnerstag Vertreter des Verbandes Österreichischer Kieferorthopäden bei einer Pressekonferenz in Wien.
"Unbestritten" sei mit der Möglichkeit für Kieferregulierungen und ähnlichen Behandlungen auf Kassenkosten eine "soziale Hürde" kleiner geworden, betonte die Generalsekretärin des Verbandes, Silvia Silli. Aber, wie die Expertin hinzufügte: "Es gibt Bundesländer-spezifische Vorgangsweisen." So existiere ein West-Ost-Gefälle bei den anerkannten Leistungen.
Am 1. Juli 2015 wurde - nach der entsprechenden Ankündigung im Nationalratswahlkampf durch den damaligen Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ) - die sogenannte Gratis-Zahnspange Wirklichkeit. Kieferorthopäden beurteilen mit Bildern, Abdrucken, Messdaten etc. den Status bei Kindern bis zum Alter von 18 Jahren nach einer in Großbritannien vor rund 30 Jahren geschaffenen IOTN-Skala (eins bis fünf). Bei Vorliegen einer Zahnfehlstellung der Kategorie vier oder fünf kann der Antrag auf eine Übernahme der Kosten eines Zahnarztes mit dem entsprechenden Kieferorthopädie-Kassenvertrag beantragt werden. Die Krankenkasse muss das dann bewilligen. Schließlich ist der Behandlungserfolg zu dokumentieren.
Starre Grenze
Für Silvia Silli ist zunächst einmal die starre Grenze (IOTN 4 oder 5-Einstufung) ein Knackpunkt: "Die Gruppe 3 ist unser Problem." Während die IOTN-Stufen 1 und 2 eindeutig eine kosmetische Angelegenheit seien, gebe es in der Kategorie 3 Fälle, in denen durchaus auch aus medizinischen Gründen eine Therapie angeraten werden. Während die Krankenkassen in Westösterreich hier Spielräume gelten ließen, sei das in Ostösterreich anders. Das Problem unterschiedlicher Krankenkassenleistungen je nach Krankenkasse - und bei den Gebietskrankenkassen je nach Bundesland - gibt es seit Jahrzehnten. Es schlägt offenbar auch bei der Gratis-Zahnspange durch.
Silvia Silli nannte ein Beispiel: "In Großbritannien wird beispielsweise jeder Kreuzbiss als IOTN-Stufe 4 anerkannt. In Österreich werden in bestimmten Bundesländern nur bestimmte Formen von Kreuzbiss anerkannt." Schlecht sei auch die starre Altersgrenze von 18 Jahren für die Kostenübernahme.
Welche Arten von Zahnspangen es am Markt gibt:
Eine Umfrage unter den 336 Mitgliedern des Verbandes der Österreichischen Kieferorthopäden mit 221 Teilnehmern zeigte die Komplexität der Themenlage. 45 Prozent gaben an, einen Kieferorthopädie-Kassenvertrag zu haben. 35 Prozent hielten die Gratis-Zahnspange für einen "totalen Blödsinn", 59 Prozent für eine gute Idee, die aber nicht gut umgesetzt worden sei (fünf Prozent: gute Idee, gut umgesetzt).
71 Prozent der Kieferorthopäden gaben an, die Einführung der Gratis-Zahnspange sei nicht reibungslos verlaufen. 91 Prozent stellten einen erhöhten Bürokratieaufwand fest. Nur 38 Prozent erklärten, die IOTN-Einstufung funktioniere reibungslos. 46 Prozent der Patienten dürften über die Rückerstattungsmöglichkeiten weiterhin nicht ausreichend informiert sein.
Allerdings, 81 Prozent der Vertrags-Kieferorthopäden sagten, sie hätten mehr "Neuanfänger" als Patienten. Bei den Wahl-Kieferorthopäden gaben 50 Prozent an, die Zahl der "Neuanfänger" sei gesunken. Zwischen Juli und Dezember 2015 wurden laut dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger insgesamt 31.656 Leistungen inklusive Beratung und IOTN-Feststellungen durch Zahnärzte abgerechnet. Die Sozialversicherung investierte damit in diesem Zeitraum in die frühkindliche Zahnbehandlung, die Feststellung von Fehlstellungen sowie eine dann folgende notwendige kieferorthopädische Behandlung mit einer festsitzenden Zahnspange bei schweren Fehlstellungen für Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr fast 28 Mio. Euro.
Aus der Gesamtzahl der abgerechneten Leistungen geht laut den Kieferorthopäden aber die eigentliche Zahl der neuen Gratis-Zahnspangen nicht hervor. Die Kieferorthopäden hätten sich ehemals auch eine soziale Staffelung der Kostenerstattung gewünscht.
Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Wer hat Anspruch auf die sogenannte "Gratis-Zahnspange"?
Kinder (6 bis 12 Jahre) und Jugendliche (12 bis 18 Jahre) mit schweren und schwersten kieferorthopädischen Fehlentwicklungen bzw. Fehlstellungen. Laut derzeitiger Schätzung betrifft das 30.000 Kinder und Jugendliche, davon 22.500 älter als zwölf Jahre. Besonders bei kleineren Kindern biete die Kieferorthopädie Vorteile, sagt die Wiener Expertin Eva-Maria Höller. "Man kann bereits im Kieferwachstum eingreifen und erspart sich dadurch möglicherweise Eingriffe, die später nur chirurgisch möglich sind."
Wie und durch wen wird der Grad der Fehlstellung diagnostiziert?
Der (Familien-)Zahnarzt überweist bei Bedarf einer Regulierung an den Kieferorthopäden. Dieser stellt die medizinische Notwendigkeit mithilfe einer international üblichen Klassifizierung, dem "Index of Orthodontic Treatment Need" (kurz IOTN), fest. Der Index teilt die Abweichungen von der Zahn-Norm in fünf Grade. Liegt IOTN 4 oder IOTN 5 vor, werden die Kosten für eine Behandlung ohne Vorbewilligung von den Kassen übernommen. "Damit ist gewährleistet, dass eine medizinische Leistung nötig ist", erklärt Bernhard Wurzer vom Hauptverband.
Bei IOTN 1, 2 oder 3 gelten die bisherigen Regelungen – Eltern können um Kostenzuschüsse (im Schnitt ca. 400 €) zu Zahnspangen oder kieferorthopädischen Maßnahmen ansuchen.
Was sind die häufigsten behandlungsbedürftigen Fehlstellungen?
Dazu zählen Kieferengstände, fehlende oder überzählige Zähne, Frontzahnstufen (Oberkiefer ragt wegen zu kleinem Unterkiefer mehrere Millimeter vor), Tief- Vor- oder Kreuzbiss und offener Biss.
Werden alle am Markt erhältlichen Varianten von Zahnregulierungen bezahlt?
Nein. Bei einem Leistungsanspruch werden in der Altersgruppe der Zwölf- bis 18-Jährigen festsitzende Zahnspangen (Metall-Brackets mit Gummizügen) bezahlt. Fast unsichtbare Kunststoffschienen oder innenliegende Brackets zählen nicht dazu. Bei den kleineren Kindern wird mit abnehmbaren Zahnspangen (interzeptive Geräte) versucht, das noch leichter formbare Kiefer zu korrigieren. Höller nennt ein Beispiel: "Beim Kreuzbiss eines Frontzahns wird damit das Oberkiefer in seinem Wachstum gehemmt."
Wer führt die neue Kassenbehandlung durch?
Österreichweit wurden 180 Kassenstellen geschaffen, 150 Verträge sind bereits unterzeichnet Eine Liste finden Sie hier. Diese Vertragsärzte müssen eine mindestens 70-prozentige Erfolgsquote nachweisen. Unter die Leistungen fallen übrigens auch zwei Reparaturen der Zahnspange.
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