„Migration ist die Bruchstelle des Linksliberalismus“

Christian Schacherreiter
Christian Schacherreiter sieht den Linksliberalismus in der Krise, weil die Erwartungen zu groß und die Ansprüche zu hoch waren.

Christian Schacherreiter ist Germanist, Autor und Literaturkritiker. Von 2002 bis 2016 war der 66-Jährige Direktor des Georg-von-Peuerbach-Gymnasiums in Linz-Urfahr. Kürzlich erschien sein Buch „Im Heizhaus der sozialen Wärme – Das Wartungsprotokoll des Linksliberalismus“.

KURIER: Ihr Buch beschäftigt sich mit der Geschichte und den Themen der 68-er Generation. Was bleibt von dieser Revolution?

Christian Schacherreiter: Man muss bei den 68ern zwei große Linien unterscheiden. Die einen waren die Antiautoritären, die Hippies, Woodstock. Sie waren einerseits Konsumverweigerer, anderseits waren sie stark hedonistisch und propagierten freie Liebe. Die andere Richtung waren die politischen 68er. Hier war das Spektrum sehr breit, angefangen von reformfreudigen Linkskatholiken bis hin zur RAF. Bestimmte Werte und eine bestimmte Ideologie haben sich dann besonders in den Bereichen der Kultur und der Medien verbreitet. Der linksliberale Diskurs ist mittlerweile sehr vielfältig geworden.

Wie lautet Ihr Resümee?

Das Positive ist, dass es eine gewisse historische Notwendigkeit gehabt hat. In der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, in sozialpolitischen Anliegen, auch in der Bildungspolitik. Es war eine große Reform- und Revolutionskultur, die ihre Gründe darin hatte, dass die Gesellschaft vorher verkrustet und eingeschlafen war. Sie hat das aufgebrochen und in Alternativen gedacht.

Das Negative war die Selbstüberschätzung dieser Generation, die meinte, immer recht zu haben. Zum Teil hatte sie völlig illusionäre Vorstellungen in der Sozialpolitik. Illusionen in den Sozialismus, wo man nicht sehen wollte, wohin solche Systeme letztlich führen. Nämlich zu relativ weit verbreiteter Armut und zu autoritären Regierungsformen. Das haben damals viele ausgeblendet. Dazu kam der Alleinvertretungsanspruch für das Glück der Menschheit.

Obwohl ich selbst zu dieser Generation gehöre und als solcher angetreten bin, hat mich nach und nach dieses und jenes gestört.

Wann hat bei Ihnen das Umdenken eingesetzt?

In den 1980er- und den 1990er-Jahren. Damals hat im linksliberalen Milieu die sogenannte Spaßpädagogik um sich gegriffen. Das stand mit der Ernsthaftigkeit meiner Bildungsanliegen im Widerspruch. Dazu gehört die Bereitschaft, zu denken, sich anzustrengen und längere Texte durchzuhalten. Das war die erste Bruchstelle. Die zweite Bruchstelle war, als sich die Sozialdemokratie völlig kritiklos auf die PISA-Pädagogik einlassen hat. Das war das komplette Gegenteil. Vorher musste alles frei und lustvoll sein, und dann zählten nur mehr rigide Standardisierungssysteme.

Sie verwehren sich im Buch auch gegen die völlige Ökonomisierung des Schulunterrichts.

Es ist eine Illusion zu meinen, man könnte Schüler völlig zielgerichtet auf eine wirtschaftliche Funktion hin ausbilden. Die Wirtschaft ist ja selbst so vielfältig und dynamisch. Dabei bin ich einer der weniger im Kulturbereich, der sehr viel Hochachtung für Unternehmertum und Marktwirtschaft hat. Ich bin dafür, dass man die Wirtschaft hört, aber die Letztentscheidung muss eine pädagogische sein. Es soll auch keiner sagen, Mozart würde sich für Österreich nicht ökonomisch rentieren.

Steckt hinter Ihren Anliegen ein humanistisches Bildungsideal?

Ja, ganz stark. Ich beziehe mich auf den traditionellen Humanismus und sein Menschenbild. Er ist Vernunft. Schon die Humanisten der Antike haben gesagt, dass die Vernunft das große Geschenk ist. Dazu kommt noch ein wesentlicher Punkt. Der humanistische Bildungsbegriff fordert den Menschen auch. Er ist nicht nur freundlich und sozial und sagt, man soll lieb zueinander sein. Er sagt, du bist

ein vernunftbegabtes Wesen, du musst auch selbst für dich sorgen. Die Betonung der Eigenverantwortlichkeit unterscheidet mich von vielen Linksliberalen ...

... die sagen, das System spielt die Hauptrolle, das kapitalistische System produziert diese Menschen, man muss es ändern, damit es die richtigen Menschen produziert.

Das drückt der Satz von Theodor Adorno (1903– 1969, deutscher Philosoph der Frankfurter Schule) aus, der sagt, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Also solange das System falsch ist, kann ich kein richtiges Leben leben.

Das halten Humanisten für einen Blödsinn. Selbst in ganz falschen Systemen wie in autoritären kann ich als Einzelmensch mein Leben sinnvoll definieren. Das ist Humanismus.

Dar Linksliberalismus hat seine große Zeit gehabt, er wirkt immer noch nach, aber was folgt? Ist es der Rechtspopulismus?

Die ganz große Bruchstelle des Linksliberalismus ist das Migrationsthema gewesen. Es war sehr schwer für ihn, von seiner Wertorientierung damit zurechtzukommen. Aufgrund eines Denkfehlers. Linksliberale machen das Eigene, das Autochthone gerne schlecht. Das Fremde gilt als wertvoller, besser, ethischer. Dieses Denken findet aber in der Bevölkerung keine Mehrheit. Diese teilweise völlig irrationale Feindseligkeit dem Eigenen, der Heimat gegenüber hat dem Rechtspopulismus sehr genützt.

Ich habe einen mexikanischen Schwiegersohn, ich bin kein Migrationsgegner. Wenn man über Migrationsprobleme geredet hat, hat man immer gehört, das ist kein Problem, das ist eine Bereicherung der Gesellschaft. Wer das nicht so sieht, gilt automatisch als Rechter. So kann man aber eine Migrationsdiskussion nicht führen. Mittlerweile sieht man ja den Scherbenhaufen, den dieses Versagen angerichtet hat.

Welche Strömung folgt dem Linksliberalismus?

Der Rechtspopulismus war der Hauptkontrahent, aber er hat ja selbst viele Schwachstellen, wie man in Österreich sieht. Damit bekommt man zwar Wählerstimmen, aber er ist kein politisches Konzept. Die Frage ist, ob es ein bürgerliches Konzept der Mitte gibt, das mehrheitsfähig ist und das den Linksliberalismus im ideologischen Bereich ablösen kann. Diese Entwicklung ist im Gange. Mit sehr interessanten Fragen. Ob sich die Grünen, die zum Teil sehr stark Teil des linksliberalen Diskurses waren, sich davon emanzipieren und sich mit bürgerlichen Positionen versöhnen? Natürlich wird sich das soziale Thema nie erübrigen, weil es ein Menschheitsthema ist. Die Frage ist, ob es andere Parteien wie die Grünen mit übernehmen und absaugen, was man in Deutschland sieht, oder ob es wirklich an eine sozialdemokratische Partei gebunden sein muss.

Ich finde die These von Ralf Dahrendorf sehr überzeugend, der schon 1983 gesagt hat, das Problem der sozialdemokratischen Parteien wird sein, dass sie zu erfolgreich waren. Dass sie sehr viel durchgesetzt haben, was sehr viele Menschen für gut gefunden haben und das zum Mainstream geworden ist.

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