Kimberger: „Schulen sind seit einigen Jahren im Ausnahmezustand“
Paul Kimberger (56) ist oberster Pflichtschullehrervertreter Österreichs und Landesobmann des 14.000 Mitglieder zählenden Christlichen Lehrervereins (CLV).
KURIER: Der Schulbeginn steht vor der Tür. Es gibt in Oberösterreich rund 300 Lehrerinnen und Lehrer und 40 Direktorinnen und Direktoren zu wenig. Warum?
Paul Kimberger: Wir haben im Moment keine valide Zahlen, wie viele wirklich fehlen. Wir führen jede Woche Gespräche mit Lehrerinnen, Lehrern und Schulleitern, die aufhören wollen. Diese kommen zu den fehlenden Stellen noch dazu.
Was sind die Gründe?
Der Lehrermangel hat hauptsächlich demografische Ursachen. Wir haben bereits 2008 auf die dramatische Situation hingewiesen. Das wurde bis vor Kurzem als gewerkschaftliche Panikmache zurückgewiesen.
Die Situation hat sich durch die krisenhaften Situationen der vergangenen Jahre verschärft. Unsere Sorge ist, dass die Belastung an vielen Schulstandorten inzwischen so groß ist, dass mit weiteren Ausfällen zu rechnen ist.
Warum ist der Frust derartig groß?
Wir befinden uns seit einigen Jahren im Ausnahmezustand. Das hängt teilweise mit strukturellen Problemen zusammen, teilweise mit selbst gemachten Problemen und mit Situationen, die nicht so einfach zu lösen sind. Es gibt jetzt nicht die eine Maßnahme, um den Personalmangel beheben zu können.
Was sind die Hauptursachen?
Die Schulen fühlen sich weitgehend alleingelassen, weil wir kein Support-Personal an den Schulen haben. Wie Schulpsychologen, Sozialarbeiter oder gesundheitliches Personal. Schulleitungen werden durch sinnlose bürokratische Tätigkeiten degradiert. Sie können ihrer eigentlichen Aufgabe, sich um Pädagogik, um guten Unterricht und um Personalentwicklung zu kümmern, nicht mehr nachkommen.
Die Arbeitszeit der Lehrer wird aufgrund der fehlenden Unterstützung immer mehr. Aber der Anteil der Unterrichtszeit und Pädagogik wird immer kleiner. Sie müssen sich um tausend andere Sachen kümmern.
Der Beruf der Lehrerin, des Lehrers war in der Vergangenheit ein angesehener.
Der Beruf hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv gewandelt. Viele Probleme, die in der Gesellschaft auftauchen, werden sofort an die Schule delegiert. Im ersten Moment sehe ich das gar nicht so negativ, weil der Schule viel Problemlösungskapazität zugetraut wird.
Aber die Schule kann die Probleme nicht alleine lösen, denn es sind gesamtgesellschaftliche Probleme. Deswegen ist die Situation an vielen Schulen so unattraktiv, sodass viele sagen, ich werde nicht Lehrer. Und Lehrer, die im Dienst sind, sagen, ich möchte mir das nicht mehr antun, ich beende diesen Beruf.
Welche Maßnahmen müssten dringend umgesetzt werden?
Wir brauchen mehr Unterstützung.
Lehrer sagen mir beispielsweise, jede Schule bräuchte einen Informatiker zur Unterstützung, wenn sie die Digitalisierung gut umsetzen sollen.
Wir sind in Europa innerhalb der OECD Schlusslicht beim Supportpersonal. Wir haben in den Pflichtschulen viel zu wenig administrative Unterstützung.
Sie bräuchten also Sekretärinnen und Sekretäre.
Wir hätten hier die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, die Länder stehen aber auf der Bremse. Das hat der Rechnungshof schon vor einigen Jahren kritisiert, weil es günstiger kommt, wenn man für diese Dinge nicht Direktoren und Lehrer heranzieht.
Welche Folgen hat der Lehrermangel?
Durch den Personalmangel steigen die Klassen- und Gruppengrößen. Es kann nicht mehr jedes Kind so gefördert werden, wie es notwendig wäre, Stichwort Sonderpädagogik. In Österreich fehlen 3.000 Sonderpädagogen. Und wir brauchen eine Lehrerausbildung, die sich an der Praxis orientiert.
Lehrer beklagen sich, dass sie in der Ausbildung nicht auf die Praxis vorbereitet werden.
Wir bräuchten eine kürzere Ausbildung.
Sie wurde auf sechs Jahre erhöht, vier Jahre für den Bachelor und zwei Jahre für den Master.
Da ist Bildungsminister Polaschek auf dem richtigen Weg. Drei Jahre Bachelor, zwei Jahre Master und das möglichst praxisorientiert. Die Praxis müsste ab dem ersten Tag der Ausbildung beginnen. Wir haben jetzt viele junge Menschen in der Ausbildung, die dann in der Praxis feststellen, das ist nichts für mich, das können wir uns nicht leisten. Wir brauchen eine drastische Reduktion von Verwaltung und Bürokratie.
Was gehört weg?
Die Schulleiter müssen sich mit so aufwendigen Schulverwaltungsprogrammen beschäftigen, dass ihnen die Zeit für wichtige Aufgaben fehlt. Die Bildungsdirektionen müssen sich zu Serviceeinrichtungen für Lehrer, Leiter und Schulen wandeln.
Agieren die Bildungsdirektionen zu bürokratisch?
Ja. Sie sind zu weit weg von der Realität. Ich höre immer wieder die Klage, wieso müssen wir diese sinnlose Abfrage schon wieder machen. Da wird ein sehr fragwürdiges, teilweise sinnbefreites Maß an Verwaltung und Bürokratie betrieben. Ich bin ein Anhänger der Autonomie und des Subsidiaritätsprinzips.
Es könnte mit dem nötigen Vertrauen sehr viel in den Schulen selbst entschieden werden. Die Schulen wissen genau, was notwendig ist.
Es geht natürlich auch ums liebe Geld. Fühlen sich Lehrer unterbezahlt?
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder macht den Lehrern ein unmoralisches Angebot. Bayern hat ein Einstiegsgehalt von 4.800 Euro, dazu kommen noch Zulagen, eine Übersiedlungsgebühr, eine Vertragsabschlussgebühr, das Angebot einer Verbeamtung nach vier Wochen.
Da sind wir nicht mehr konkurrenzfähig. Ich kenne einige, die sagen, ich gehe jetzt nach Bayern. Das heißt, wir brauchen auch finanzielle Anreize. Wir haben derzeit einen Abfluss von Lehrern nach Bayern und von Vorarlberg in die Schweiz.
Viele Lehrer beklagen, dass die Eltern ihre Kinder in die Gymnasien drängen und so die Neue Mittelschule zu einem Sammelbecken der Schwächeren wird.
Das ist regional sehr unterschiedlich. Wir haben im Zentralraum die Situation, dass die Unterstufe der AHS in Wirklichkeit eine undifferenzierte Gesamtschule ist. Es besteht die Gefahr, dass Pflichtschulen zu Restschulen werden.
Es gibt aber in Oberösterreich Gebiete, wo ein ganz hoher Prozentsatz in die Mittelschule geht und die jederzeit konkurrenzfähig mit der AHS ist. Es wäre naheliegend, das Nahtstellenmanagement beim Übertritt in eine andere Schule zu verbessern. Man muss sensibilisieren, dass der Weg zur Universität nicht der allein selig machende ist, sondern der Weg der Lehre Richtung Facharbeiter ein gleichwertiger ist.
Die Perspektiven eines Facharbeiters sind in manchen Bereichen weit besser als die eines Universitätsabsolventen. Da haben wir eine Schieflage. Hier brauchen wir eine sachliche und ehrliche Diskussion.
Müsste man nicht das gesamte System der Schule neu aufstellen, damit es noch stärker auf den einzelnen Schüler eingehen kann?
Keine Frage. Wir sind gesellschaftlich mit Umwälzungen konfrontiert, die auch die Schule betreffen. ChatGPT ist zum Beispiel ein Megathema. Es verändert Unterricht und Schule.
Wir müssen alle Entscheidungen davon abhängig machen, was das Beste für das Kind ist. Es braucht individualisierte Angebote. Das bedeutet kleinere Klassen, kleinere Gruppen, einen besseren Betreuungsschlüssel und multiprofessionelle Teams. Deswegen habe ich viel Unverständnis, dass man hier auf der Bremse steht, weil das Mehrkosten verursacht. Aber langfristig werden sich diese vielfach rechnen. Es muss uns um die Stärken, Talente und Interessen der Kinder gehen, wir müssen weg von der Defizitorientierung.
Schule ist auch nicht die Reparaturwerkstätte der Nation. Hier sind alle in der Gesellschaft gefordert. Das Märchen, dass Pädagogik alles lösen kann, habe ich sowieso nie geglaubt.
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