Was bedeutet der 80-er für ihn? "Für mich bedeutet 80 Jahre schon, eine Schwelle zu überschreiten. Aber ich schaue vor allem in Dankbarkeit auf diese 80 Jahre zurück. Ich bin dankbar, dass ich immer nur Lust und Kraft habe, Vorträge und Kurse zu halten. Aber ich weiß auch, dass in diesem Alter schnell Einbrüche kommen können, die alle Planungen über den Haufen werden. Ich habe mir vorgenommen, gut auf mich, auf meinen Leib und auf meine Gefühle zu hören, um zu spüren, was für mich stimmig ist", sagt er im Gespräch mit dem KURIER.
Auch die Schattenseiten anehmen
Pater Anselm spricht von innerer Befriedigung. Was versteht er darunter? "Ich komme mit mir in Frieden, wenn ich alles, was in mir ist, auch meine Schattenseiten annehme. Jeder hat in sich immer verschiedene Pole: Liebe und Aggression, Verstand und Gefühl, Stärken und Schwächen. Wenn wir einen Pol verdrängen, gerät er in den Schatten und wirkt sich dann destruktiv aus. Es geht darum, sich mit allem, was in uns ist, auch mit dem inneren Chaos anzufreunden und es anzunehmen. Dann finden wir zum inneren frieden. Und dann kann von uns auch Frieden ausgehen. Wer etwas in sich abspaltet, der wird auch die Menschen um sich herum spalten."
Verstehen statt beurteilen
Stets betont er, es sei wichtiger zu verstehen als zu bewerten. Warum ist das so und wie schafft man es, zu dieser Einstellung zu kommen? Grün zum KURIER: "Heute erleben wir, dass die Menschen andere sofort bewerten und über sie urteilen Häufig ist das Urteilen über andere Ausdruck der Weigerung, sich selbst anzunehmen Das, was ich bei mir nicht akzeptiere, projiziere ich auf die andern. Nur wenn ich versuche, den andern zu verstehen, ist eine Verständigung möglich. Aber das Verstehen statt Bewerten gilt auch für uns selbst. Viele bewerten sich selber ständig. Wenn sie Angst haben, bewerten sie das sofort als Krankheit oder als Schwäche. Es geht darum, sich zu verstehen. Dann kann ich dazu stehen und überlegen, wie ich damit umgehe. Ähnlich ist es in der Partnerschaft. Wenn ich den andern ständig bewerte, wird kein Miteinander möglich sein. Nur wenn ich ihn verstehe in seinen manchmal irrationalen Reaktionen, kann eine Verständigung geschehen."
Verletzungen
Beim Vortrag im Bildungshaus Puchberg bei Wels im vergangenen Frühjahr hat sich Grün mit dem Thema Verletzungen auseinandergesetzt. Jeder Mensch sei in seinem Leben schon verletzt worden. Wie soll man damit umgehen? „Es gibt den Grundsatz in der Psychologie, wenn ich mich nicht mit den Verletzungen der Kindheit aussöhne, werde ich mich entweder selber verletzen oder andere verletzen, mir immer wieder Situationen aussuchen, in denen sich die Verletzungen der Kindheit wiederholen“, sagte Grün.
So wichtig die Kindheit gewesen sei, müsse man dann doch Verantwortung übernehmen und sagen, „das ist meine Geschichte und sich mit ihr aussöhnen“.
Vergeben ist loslassen
„Wichtig ist auch, den Eltern zu vergeben, wenn man das Gefühl hat, man ist verletzt worden. Vergeben ist eine ganz wichtige Form, auch untereinander. Das Ziel ist immer zu vergeben, um loslassen zu können. Das geht durch die Wut und den Schmerz hindurch. “
Vergebung erfordert für Grün fünf Schritte. „Der erste ist, ich würdige den Schmerz, ich bagatellisiere ihn nicht oder entschuldige die Eltern. Mir hat es wehgetan. Und es tut auch heute noch weh.“
Der zweite Schritt: „Die Wut zulassen. Und sie in Ehrgeiz umwandeln. Ich lasse mich von euch nicht kaputtmachen.“ Der dritte Schritt: Objektiv anschauen, was genau passiert ist. Die Eltern und ihre eigene Geschichte verstehen, warum waren sie so? Verstehen heißt nicht entschuldigen.“
Sich befreien
Die vierte Schritt ist Vergebung. „Das heißt, sich von der negativen Energie und der Macht des anderen zu befreien. Nicht vergeben bedeutet, ich greife immer noch um den anderen und gebe ihm Macht. Vergeben heißt weggeben und beim anderen lassen. Das heißt nicht, dass ich dem anderen sofort um den Hals falle, sondern dass ich noch Abstand brauche.“
Grün belegt das mit einem Beispiel aus seiner Praxis: „Mir erzählte eine Frau, die sexuell missbraucht worden ist, dass sie am Ende der Therapie das Gefühl hatte, jetzt kann ich meinem Vater vergeben. Sie hat ihn besucht, aber kaum war sie im Haus, musste sie erbrechen. Sie war total enttäuscht, ich sagte ihr, sie habe dem Vater im Kopf und im Herz, vergeben, aber vielleicht noch nicht im Leib. Sie brauchte noch Abstand zum Vater.“
In Perlen verwandeln
Der fünfte Schritt ist für Grün, Wunden in Perlen zu verwandeln. „Das ist ein Wort von Hildegard von Bingen. Sie sagt, die Kunst der Menschwerdung besteht darin, die Wunden in Perlen zu verwandeln. Ich kann jemanden nur durch die Verletzungen begleiten in der Hoffnung, dass der mit seinen Wunden eine gute Lebensspur eingräbt. Dass er mit den Wunden umgehen kann und sein Leben wertvoll ist.“
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