Adelheid Kastner: "Die Welt wäre eine bessere, wenn weniger feig wären“

Adelheid Kastner
Kommen jene, die sich wegducken und feig sind, besser durchs Leben? Die forensische Psychiaterin Adelheid Kastner lädt die Menschen ein, Haltung zu zeigen.

Adelheid „Heidi“ Kastner präsentierte in der Linzer Thalia-Buchhandlung ihr neues Werk „Feigheit“ (Ecowing-Verlag, 21 Euro). Moderiert wurde die Veranstaltung vom ORF-Journalisten Johannes Reitter, der auch die Fragen an sie gerichtet hat. Kastner (62) ist Primarärztin für forensische Psychiatrie am Kepler-Universitätsklinikum und eine viel gefragte Gerichtsgutachterin.

Johannes Reitter: Wie schätzen Sie sich selbst ein, feig oder nicht feig?

Heidi Kastner: Eher wenig feig. Es gibt sicher Situationen, wo auch ich feig wäre und vermutlich nicht mein Leben riskiere, außer es geht um Menschen, die mir ganz, ganz wichtig sind. Aber wenn es darum geht, sich zu positionieren, seine Meinung zu artikulieren, sich auch gegen eine Gruppe zu stellen, die eine Meinung vertritt, die für mich nicht vertretbar ist, dann habe ich das eigentlich immer gemacht. Ich habe damit auch durchaus negative Erfahrungen gesammelt. Ich mache das heute vielleicht auf eine etwas klügere Art, weniger konfrontativ.

Sie haben mir gesagt, dass das feig sein weniger wird. Warum wird es weniger?

Vermutlich wird mir mit zunehmendem Alter weniger wichtig, was andere von mir denken. Es hat wenig Sinn sich zu verbiegen und einen Anschein zu erwecken, der nicht der Wahrheit entspricht. Ich bin selbstsicherer und auch wieder nicht. Ich hinterfrage mich mit zunehmendem Alter mehr, als ich das früher getan habe. Ich bin auch eher geneigt, meine Positionen zu adaptieren, wenn zusätzliche Erkenntnisse kommen. Ich bin heute auch weniger stur.

Sie haben in Ihrer beruflichen Tätigkeit mit Schwerverbrechern zu tun. Können Sie sich es überhaupt leisten, feig zu sein?

Es kommt darauf an, was man unter Feigheit versteht. Es gäbe zum Beispiel die Feigheit, nicht seine fachliche Position zu vertreten, sondern das Ergebnis zu liefern, das der Auftraggeber haben will. Das habe ich nie getan, ich halte das moralisch für verwerflich. Da habe ich mich auch durchaus mit Richtern in Gerichtsverhandlungen angelegt.

Wenn ich mich bei Untersuchungen von Personen zu fürchten anfange und ich mich in der Gesprächsführung nicht mehr entspannen kann, dann gehe ich. In so einer Situation zu bleiben, hielte ich für dumm. In 21 Jahren bin ich zweimal gegangen.

Sie bezeichnen das Vermeiden klarer Positionen als feig.

Es geht primär darum, für sich einmal eine klare Position zu finden. Was sind die Werte, die ich nicht verraten möchte? Was gehört für mich zum anständigen Leben dazu? In einem zweiten Schritt sollte man das auch gegebenenfalls vertreten. Wenn man das nicht macht, um zum Beispiel in einer Beziehung nicht alleine überzubleiben, dann bleibt man in einer Beziehung, von der man natürlich weiß, dass sie einem nicht guttut.

Dafür wird es Gründe geben.

Da gibt es viele Gründe, warum man das vermeidet. Weil man die Beziehung aus Gründen der Bequemlichkeit so lassen will oder der Kinder wegen. Aber das ist überhaupt die feigste Version der Begründung, denn Kinder haben ein sehr gutes Sensorium für Spannung. Es ist für Kinder eine Zumutung, in einem pausenlosen Zustand der Spannung leben zu müssen. Wenn man selbst schon Bauchweh bekommt, wenn man heimkommt, dann geht es Kindern nicht viel anders. Nur haben diese keine Alternative. Das sind Situationen, in denen die Feigheit ins Spiel kommt.

Wollen Sie Ihr Buch auch als Plädoyer gegen die Feigheit verstanden wissen?

Durchaus. Das ist ja keine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist prinzipiell einmal meine Position. Es ist ein Essay und kein wissenschaftliches Werk. Sie läuft darauf hin aus, dass es um die Welt besser bestellt wäre, wenn weniger Menschen feig wären.

Wie kann das erreicht werden?

Wenn man bei sich anfängt. Das Problem mit der Welt verändern ist, dass man immer weiß, wie sie verändert werden muss. Und die Welt verändern hat den Haken, dass man es nicht zustande bringt. Das Einzige, was man in der Welt verändern kann, ist die eigene Position. Weltverbessern fängt immer damit an, dass man bei sich selbst nachdenkt. Das Einzige, worauf ich wirklich Einfluss habe, ist das eigene Verhalten und die eigene Positionierung.

Lässt sich das in einem höheren Alter noch erlernen?

Ja, wir sind bis ins hohe Alter lernfähig.

 

Gutachterin Adelheid Kastner

Kastner: Die Kombination aus Feigheit und Dummheit ist eine besonders faszinierende

Sie schreiben, Sie finden es besonders schlimm, wenn sich jemand feig verhält, ohne einen eigenen Vorteil zu haben. Warum finden Sie das besonders verwerflich?

Weil es besonders dumm ist. Es ist eine faszinierende Kombination aus Feigheit und Dummheit. Da fehlt es schon weit.

Zurück zum Thema Trennungen. Es gibt Menschen, die tun sich schwer, allein zu sein. Denen ist es lieber, eine nicht optimale Beziehung zu ertragen als eine Trennung und dann alleine dazustehen. Gehen Sie nicht hart mit Menschen um, die sich mit Trennungen schwertun?

Es kann jeder die Entscheidung treffen, in einer defizitären Beziehung zu bleiben, weil sie/er nicht alleine leben will. Das ist zu respektieren. Dann soll man sie auch vor sich selbst so formulieren. Und nicht dauernd versuchen, den anderen zu ändern, sich nicht darüber beklagen, dass der andere nicht so ist, wie man ihn gerne hätte.

Es gibt Menschen, die heiraten ein Kamel und denken sich, ich mache daraus ein Pferd. (Publikum lacht) Dann sind sie zehn Jahre mit ihm zusammen, und der andere ist immer noch ein Kamel. Dann hören alle rundherum, dass er sich wie Kamel aufführt, wie ein Kamel ausschaut, wie ein Kamel geht und nicht das ist, was sie sich gerne gewünscht hätten. Das ist auch ein Schaden an anderen, vor allem ein Schaden am Gegenüber. Dann sollte man so ehrlich gegenüber sich selbst sein und sagen, ich bleibe in der Beziehung, weil ich mir ein Leben alleine nicht zumuten will. Ich nehme bewusst alle Nachteile für mich in Kauf, was heißt, ich beklage mich nicht darüber und sage, ich bin so depressiv, ich brauche einen Therapeuten.

Dann geht man zum Therapeuten und spricht über alles Mögliche, aber nicht über das eigentliche Thema.

Besonders verwerflich finden Sie das Ghosting, also das plötzliche Kappen jeglicher Verbindung, das Nicht-mehr-erreichbar-Sein ohne jede Vorankündigung. Warum ist das besonders verwerflich?

Weil wir Menschen Ursachensuche betreiben. Wir hinterfragen selten, warum uns etwas Gutes geschehen ist, wir hinterfragen aber immer, warum uns etwas Negatives passiert ist. Es ist in der menschlichen Natur eingebaut, dass wir Antworten wollen. Wir wollen wissen, warum ist das so? Wenn sich jemand aus der Beziehung davonstiehlt und alle Kontakte kappt, bleibt er die Antwort nach dem Warum schuldig.

Das führt dazu, dass der Betroffene sich selbst in gewisser Weise zerfleischt, sich fragt, habe ich da einen Fehler gemacht, war ich zu forsch? Er sucht die Schuld bei sich. Es kann aber sein, dass da keine Schuld vorliegt. Es kann sein, dass der andere andere Vorstellungen und Wünsche hat, ich ihm nicht entspreche. Ich finde es nicht in Ordnung, dass der Betroffene noch so lange daran hängt und mit der Ursachenforschung alleingelassen wird. Das ist unanständig.

Das ist feig?

Ja, es ist feig. Auch die Argumentation, den anderen nicht verletzen zu wollen. Er wird sowieso verletzt, wenn er sich nicht trennen will. Man will einer unangenehmen Situation entgehen, die man selbst hervorgerufen hat.

Feig hat im deutschen ursprünglich die Bedeutung „dem Tod geweiht“, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Kann dann Feigheit nicht auch eine Überlebensstrategie sein, die von Klugheit kommt? Denn wenn ich klug genug bin und ich überlebe, weil ich feig bin, ist das doch eine erfolgreiche Strategie.

Durchaus. Deshalb ist Feigheit kontextabhängig. Keiner kann dort Mut erwarten, wo er das Leben kostet. Je nachdem, was der höchste Wert ist, und das ist für viele von uns das eigene Leben, und dann das Leben der uns Nahestehenden, kann es durchaus klug und abwägend eine weise Entscheidung sein, sich nicht in Gefahren zu begeben, die das Leben riskiert. Aber davon sind wir im Alltag weit entfernt.

Als kürzlich in Villach ein Mann sechs Menschen niedergestochen hat, sind viele Menschen herumgestanden und haben zugesehen. Ein Opfer ist gestorben. Ein nicht-autochthoner Österreicher hat den Attentäter mit dem Auto angefahren und so dem ein Ende gesetzt. Er ist ins Tun gekommen, wo hingegen die anderen herumgestanden sind und mit ihrem Handy die Tat mit Video aufgenommen haben. Das ist wirklich unterirdisch. Es erwartet niemand, dass man da hinläuft und dem Täter das Messer entreißt. Es reicht oft schon, wenn man zu schreien beginnt, und dem Täter vielleicht einen Schuh nachwirft oder irgendwie ins Tun kommt.

Es gibt Fälle von Zivilcourage, bei denen Helfer umgekommen sind.

Es kommt auf die Art an, wie man eingreift. Aus der Zivilcourageforschung weiß man, dass es oft schon hilft, wenn man schreit, wenn man Zeuge eines Verbrechens wird. Weil das den anderen aus dem Tun herausreißt und dem Opfer eine Chance des Entkommens gibt.

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