Prag, Wiener Neustadt, Bagdad, New York: Eine Odyssee des 20. Jahrhunderts

Wilhelm und Therese Strauß 1952 in Rome, New York
Kinderarzt Wilhelm Strauss floh 1938 vor den Nazis aus Österreich. Sein Enkel hat seine Lebensgeschichte als Buch veröffentlicht.

Es ist eine fast filmreife Lebensgeschichte, die John Strauss, Musikprofessor am Luther College in Iowa (USA) niedergeschrieben hat. Es ist die Geschichte seines Großvaters Wilhelm Strauss, der als Kinderarzt im Wiener Neustadt der Zwischenkriegszeit Bekanntheit erlangte. Eine Geschichte, die aus dem Böhmen der k.u.k. Monarchie bis nach Bagdad und schließlich in die USA führt.

Seine medizinische Ausbildung erhielt Wilhelm Strauss – nach Geburt und Kindheit in Prag – in Wien. Er diente im I. Weltkrieg unter anderem an der Ostfront. Nach seiner Eheschließung zog die Familie nach Wiener Neustadt, wo der überzeugte Sozialdemokrat von der Gemeinde beauftragt wurde, Sozialreformen in die Tat umzusetzen.

Soziales Engagement

Er übernahm Verantwortung für das Kindergesundheitswesen. Strauss war bekannt dafür, Kinder aus ärmlichen Verhältnissen mit Ernährungsdefiziten auf eigene Kosten mit Zitrusfrüchten zu versorgen. Ganze Nächte soll er an Betten schwerkranker Kinder verbracht und dadurch Leben gerettet haben.

Prag, Wiener Neustadt, Bagdad, New York: Eine Odyssee des 20. Jahrhunderts

Wilhelm Strauss 1915 an der Ostfront bei der Verabreichung von Cholera-Impfungen

Familie wird getrennt

Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten machte Strauss‘ Wirken in Wiener Neustadt ein Ende. Immer häufiger war die Familie mit Antisemitismus konfrontiert, sodass man schließlich den Entschluss zur Emigration fasste. „Wenn Deutsche behaupten, ich gehöre nicht zu ihnen, so kann ich nur erwidern, wohl, ich bin kein Deutscher wie sie, aber meinem Verstand, meinem Herzen nach werde ich immer Deutscher sein“, lautet ein Tagebucheintrag, den John Strauss im Zuge seiner Recherchen fand. Und weiter: „Sie können mir meinen Heimatschein wegnehmen, sie können mich des Landes verweisen, meine Heimat können sie mir nicht nehmen.“

Flucht über Budapest und Syrien

Am 11. Dezember 1938 verließ Wilhelm Strauss Österreich in Richtung Budapest, wo er fast einen Monat lang Transitvisa von italienischen, französischen und britischen Behörden zusammentrug, um über Syrien nach Bagdad im Irak weiterreisen zu können. Einer seiner Söhne wurde in Tirol unter dem Mädchennamen seiner Mutter versteckt, ein weiterer starb – nur zehn Jahre alt – in Budapest an Scharlach, der dritte reiste nach New York zum Bruder seiner Großmutter, der ihn bei sich aufnahm.

Prag, Wiener Neustadt, Bagdad, New York: Eine Odyssee des 20. Jahrhunderts

Therese und Wilhelm Strauss in ihrer medizinischen Arbeitskleidung im Meir Elias Hospital in Bagdad

Wiedersehen mit Sohn

„In der Hoffnung, sich in den USA wieder vereinen zu können, lernte die gesamte Familie Englisch“, erzählt John Strauss. Doch zunächst stieg sein Großvater am Meir Elias Hospital in Bagdad zum Leiter der Kinderabteilung auf. Gattin Therese wurde als Krankenschwester angenommen. Bis 1948 sollte ihr Exil dauern, ehe sich die Chance ergab, über Lausanne in der Schweiz nach New York zu reisen, wo Sohn Felix als Geschichtsprofessor tätig war.

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John Strauss (re.) hat die Geschichte seines Großvaters niedergeschrieben

Strauss übernahm die Verwaltung einer Klinik für körperlich oder geistig beeinträchtigte Kinder. 1954 nahmen er und Gattin Therese die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Ihr Enkel hat die Verbindung zur österreichischen Heimat nicht verloren, er ist Doppelstaatsbürger. Sein Buch "Dr. Wilhelm Strauss, Kinderarzt" ist im Verlag Berger erschienen.

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