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Eine Farm auf dem Hochhausdach

Alles Gute kommt von oben – das scheint die Devise der deutschen Forschungseinrichtung Fraunhofer zu sein. Am Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (kurz: UMSICHT) geht man seit Längerem der Frage nach, wie neue Anbauflächen in der Stadt gewonnen und zur Versorgung mit Lebensmitteln genutzt werden können. Im Visier der Forscher: die Dächer der Stadt. Paradeiser, Radieschen, Salat und Erdbeeren sollen künftig über den Köpfen der Bewohner wachsen.

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Eigentlich versteht sich Fraunhofer als Technologieentwickler – über das Gärtnern dachte man eher weniger nach. "Bis das US-amerikanische UnternehmenBrightFarmsim Jahr 2011 begann, Dachgewächshäuser auf New Yorker Supermärkten zu errichten, Gemüse anzubauen und im darunterliegenden Geschäft zu verkaufen", erzählt Volkmar Keuter, Leiter des Fraunhofer-inHaus-Zentrums in Duisburg. "Aber was in New York funktioniert, funktioniert nicht per se in Deutschland. Aufgrund von Gesprächen mit internen und externen Experten sowie einer Machbarkeitsstudie wissen wir aber heute, dass das auch bei uns Sinn macht."

Neue Lösungen sind gefragt


Moderne Landwirtschaft verschlingt Ressourcen in großen Mengen. Gesamt gesehen benötigt sie eine Fläche, die etwa der Größe Südamerikas entspricht, und sie verbraucht rund 70 Prozent des weltweit genutzten Trinkwassers. Sie verursacht einen großen Teil der Wasserverunreinigungen und mindestens 20 Prozent des weltweiten Treibstoffverbrauchs. Bis Lebensmittel beim Verbraucher ankommen, sind sie oft um die halbe Welt gereist. Hinzu kommen Faktoren wie Bevölkerungswachstum, ein steigender Grad der Urbanisierung, Klimawandel und der Rückgang von Anbauflächen. Über eine Milliarde Menschen sind heute von Fisch als Proteinquelle abhängig, hingegen sind 85 Prozent der Weltmeere überfischt oder stehen kurz davor. Kein Wunder also, dass die Idee, Kräuter und Gemüse lokal herzustellen anstatt zu importieren, immer mehr Befürworter findet.

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Keuter untersuchte daraufhin das Konzept der urbanen Landwirtschaft nach deminFarming-Prinzip (kurz für integrated farming). "Ziel ist es, bestehende Bauten für den großflächigen Anbau von Gemüse zu nutzen", erklärt er. Egal ob auf Supermärkten, Bürohäusern oder Fabriken – 70 bis 80 Prozent aller Pflanzen, ausgenommen erdbasierte Sorten wie Karotten oder Kartoffel, sind für den Dachanbau geeignet.

Damit das Konzept in bestehende Gebäude integriert werden kann, müssen neue Materialien und Technologien entwickelt werden. Weil Erde für viele Dächer zu schwer wäre, setzen die Forscher auf Hydrokulturen, also hydroponische Systeme. "Wir haben ein Rinnensystem entwickelt, durch das ein dünner Wasserfilm mit einer Nährlösung rinnt. Der reicht den Pflanzen aus, um mit ihren Wurzeln die Nährstoffe aufzusaugen. Der Vorteil: Der Ertrag ist zehn Mal höher und die Dachlast bleibt gering", schildert Keuter.
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inFarming hat aber noch mehr Vorteile: geringer Flächenverbrauch, kaum Transportkosten, weniger Emissionen sowie frischere Produkte. Die Abwärme des Hauses und zusätzliche Solarmodule versorgen die Gewächshäuser mit Energie. Auch der Wasserverbrauch ist minimal, da in einem geschlossenen Kreislauf Schmutzwasser gereinigt und wieder zum Gießen genutzt wird. Sogar aus dem Abwasser werden Nährstoffe für die Pflanzen herausgefiltert.

Fische helfen beim Gemüseanbau

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Unterdessen hat sich in Berlin das deutsche UnternehmenECF Farmsystemsdem Betrieb von Aquaponik-Farmen (AQUAkultur/ Fischaufzucht + hydroPONIK/ Gemüseanbau) verschrieben – eine vielversprechende Neuentwicklung für nachhaltige Landwirtschaft. Die erste Farm wurde vor Kurzem auf dem Areal einer ehemaligen Malzfabrik im Stadtteil Schöneberg eröffnet. In überdachten Fischbecken und einem Gewächshaus gedeihen Barsche, Gurken und Senfrauken. Die Erträge sollen im angeschlossenen Hofladen verkauft werden.
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Der Clou: Die Pflanzen bekommen ihre Nahrung zu 70 Prozent von den Fischen, deren Ausscheidungen natürliche Nährstoffe enthalten. Das verbrauchte Wasser wird von Biofiltern aufbereitet und den Gewächsen zugeführt. Das senkt den Wasserverbrauch, spart Platz und Transportkosten. Zudem hat sich das Team bewusst gegen den Einsatz von Antibiotika und Pestiziden entschieden. Den Gründern zufolge kann dieses System auch wirtschaftliche Erfolge bringen: In Berlin sollen auf 1800 Quadratmeter Fläche jährlich 30 Tonnen Fisch und 35 Tonnen Gemüse produziert werden. Darüber hinaus ging vor wenigen Wochen eine zweite Anlage in Bad Ragaz in Betrieb – mit einer Fläche von 1200 Quadratmetern ist es die größte urbane Aquaponik-Dachfarm der Schweiz.
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Versuche mit Aquaponik stellt auch das Projekt Roof Water Farm in Berlin an. In einem Gewächshaus im Hinterhof eines Kreuzberger Wohnblocks wird getestet, ob Grauwasser (Abwasser aus Dusche, Badewanne und Waschmaschine) und Schwarzwasser (Toilettenwasser) so aufbereitet werden kann, dass es zur Aufzucht von Fischen und der Kultivierung von Gemüse verwendbar ist. Grit Bürgow, Initiatorin des Projekts: "Die ersten Ergebnisse zeigen, dass es technisch umsetzbar ist. Das aufbereitete Grauwasser hat Badewasserqualität und schneidet damit besser ab als die meisten natürlichen Flüsse und Seen, in denen geangelt wird. Ziel im nächsten Schritt ist es, diese blau-grüne Infrastruktur auf das Dach zu setzen."

Forschung am Karlsplatz

Lokale Produktion in der Stadt wird auch in Wien forciert. Seit einem Jahr etwa wird der KarlsGarten betrieben – ein Gemeinschaftsgarten in der Wiener Innenstadt mitten am Karlsplatz. Die 2000 Quadratmeter große Grünfläche steht zur Hälfte den Besuchern als Aufenthaltsraum zur Verfügung. Die andere Hälfte wird bewirtschaftet: Wein und Getreide sprießen hier ebenso wie Mangold oder Kapuzinerkresse. Auch zwei Bienenvölker fanden am Karlsplatz ein neues Zuhause.

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Im KarlsGarten wird aber nicht nur geerntet, sondern auch geforscht. Vergangenes Jahr wurde im Rahmen einer Masterarbeit an der Universität für Bodenkultur Wien (Boku) untersucht, ob sich Dachbegrünungssubstrate zum Gemüseanbau in Hochbeeten eignen und inwiefern sich aus dem Verkehr stammende Schwermetalle in den Substraten nachweisen lassen. Uli Pitha, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Boku: "Der Anteil an Schadstoffen in den untersuchten Substraten war trotz des hohen Verkehrsaufkommens unauffällig. Die Ergebnisse des ersten Jahres lagen deutlich unter den kritischen Grenzwerten." Die Versuche zeigten auch, dass die Substrate Gemüse gedeihen lassen. Manche Variante stellt sogar einen höheren Ertrag in Aussicht als herkömmliche Erde. "Es gibt viele Dachflächen, die Potenzial haben. Anstatt sie mit Kies oder Bitumen abzudecken, könnte man sie zum Gemüseanbau oder zur Erholung nutzen. In Bezug darauf forschen wir derzeit intensiv nach innovativen und nachhaltigen Lösungen", sagt Pitha.
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Urbaner Gartenbau geht auf eine lange Tradition zurück und wird betrieben, seit es Städte gibt. In der Antike errichtete man etwa hängende Gärten, im 19. Jahrhundert hielten Klein- und Schrebergärten in Ballungszentren Einzug.
"Was die urbane Landwirtschaft betrifft, kann ich mir vorstellen, dass die Idee weiter verbreitet wird – ohne festzulegen, wie viel Prozent über lokale Produktion generiert werden. Würde eine Stadt wie Wien es schaffen, zehn Prozent des Gemüsebedarfs durch lokale Produktion zu stillen, dann wäre sie Vorreiter in Europa", sagt inFarming-Experte Keuter. Derzeit setzen vor allem Technologiekonzerne in Asien auf diesen Trend: Sie bauen ehemalige Chipfabriken zu Indoor-Farmen um und produzieren dort Lebensmittel. All diese Versuche zeigen, dass ein Umdenken stattfindet. Obwohl sich die Zukunft des Verbrauchers nicht vorhersagen lässt – jeder dieser Ansätze liefert einen wertvollen Beitrag für mehr Nachhaltigkeit in der Stadt.