Warum wir von einer besseren Welt träumen könnten (und sollten)
Von Tom Schaffer
Rutger Bregman ist ein junger, progressiver Denker. Manche sagen gar, er sei einer der spannendsten davon in Europa. Vor einigen Jahren hat der 1988 geborene, studierte Historiker eine Serie von Online-Artikeln geschrieben. Wegen des großen Erfolges wurde ein Buch daraus. Das stürmte in seiner Heimat, den Niederlanden, die Bestsellerlisten. Also wurde es übersetzt, wehte dann als medialer Wirbelwind durch Großbritannien. Mittlerweile kann man auch auf Deutsch nachlesen, warum ein politisches Sachbuch so viele Menschen interessiert: "Utopien für Realisten" erschien kürzlich im Rohwohlt-Verlag.
Es ist unter anderem eine wütende, progressive Kritik an einer Welt, in der Hedgefondsmanager unsagbar reich werden aber nicht Lehrer, Ärzte oder Menschen, die sich um Kranke und Alte kümmern. Bregman kritisiert eine Wirtschaft, die ihr Wachstum nicht an der Verbesserung unserer Leben, sondern abstrakten, fragwürdigen Zahlen wie dem BIP misst. Und eine Politik, die ihre Gesetze und Programme aus ideologischen Vorurteilen speist, statt sich empirisch weiterzuentwickeln. Und es ist auch eine Kritik an der Linken, die es nicht mehr schafft, dieser Welt eine Vision gegenüber zu stellen, die Menschen begeistert.
"Das große Problem der Linken heutzutage ist, dass sie vor allem wissen, wogegen sie sind. Aber du musst auch wissen, wofür du bist", meint Bregman im Gespräch mit dem KURIER (siehe auch im Podcast). Stattdessen verfolge besonders die Sozialdemokratie einen "Underdog-Sozialismus", der den Kampf um die Rahmenbedingungen und Trends im Prinzip aufgegeben und sich auf eine Abwehrhaltung innerhalb eines dominierenden, neoliberalen Rahmens zurückgezogen hat.
Ein Loblied auf die Utopie
Viel erkennbare Kritik also. Dabei ist Bregmans großes Ziel nicht, einfach nur zu kritisieren. "Utopien für Realisten" will eine hoffnungsvolle Vorstellung von politischen Alternativen und neuen Lösungen für die heutigen Probleme sein. Das verspricht auch schon der Untertitel: "Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen." Das klingt träumerisch - bewusst. Aber Bregmans Plädoyer auf 263 Seiten Text und 39 Seiten Quellenverzeichnis ist vor allem streng pragmatisch argumentiert. Es brauche kein Moralisieren, denn die Fakten allein sprächen für eine progressive Veränderung. Das folgert er aus seinen vielen zitierten Studien und Experimenten .
Ein Beispiel sei der Kampf gegen die Obdachlosigkeit, der an vielen Orten eher gegen Arme als gegen Armut geführt werde. Die Folgekosten der Obdachlosigkeit (etwa durch Drogensucht, Kriminalität und Krankheit) und für die Bürokratie, die im Kampf dagegen eingesetzt werden, seien teurer, als würde man den Betroffenen einfach eine Wohnung zur Verfügung und Betreuer zur Seite stellen. Das würde hingegen ihr Leben nachhaltig verändern.
Ähnliches gelte für die Arbeitsmarktpolitik, die Bregman als "Arbeitslosenindustrie" bezeichnet. Ein teurer und riesiger Apparat an Gesetzgebern, Beamten und Kontrolleuren würde eingesetzt, um zwischen jenen Arbeitslosen zu unterscheiden, die unsere Hilfe verdienen (die dann von Beratern und Fortbildnern oft kontraproduktiv oder gar sinnlos beschäftigt würden) und jenen, die sie offenbar nicht verdienen (denen man dann die Leistungen kürzt). Der Sozialstaat insgesamt sei zu einem "widernatürlichen Ungeheuer degeneriert", das Bedürftige mit Bürokratie in eine Bittstellerrolle drängt, sie dort drangsaliert und vorverdächtigt - ein System von "Misstrauen und Scham". Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre im Endeffekt viel günstiger.
Bregman will den Sozialstaat nicht - wie "rechte Versionen" eines Grundeinkommens es vorsehen würden - abschaffen, sondern ergänzen. Ein bedingungloses Grundeinkommen solle etwa zu öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystemen hinzukommen. Es würde Menschen ermächtigen, sich mehr um sich selbst zu kümmern.
Das Grundeinkommen ist das zentrale Element von Bregmans Vision einer besseren Welt. Dieser Idee steht jedoch heute in der Realität immer noch etwas Mächtiges gegenüber: Die Skepsis der Menschen gegenüber Menschen. "Es ist eine große politische Herausforderung, die Geschichte über uns selbst und unsere Natur grundsätzlich anders zu erzählen", sagt Bregman. "Eine lange, intellektuelle Tradition, die bis ins antike Griechenland zurückgeht, sagt: Menschen sind grundsätzlich böse und tief im Innersten selbstsüchtig. Das ist im Westen ein einflussreicher Gedanke."
Bestärkt würde dieser Gedanke durch Nachrichten, die sich auf das Außergewöhnliche und Schlechte konzentrieren, statt auf das hinzuweisen, was jeden Tag funktioniert und gut ist. Bregman stimmt deshalb nicht gleich in den Chor dumpfer Fake-News-Schreier ein. Aber er weist auf die Folge hin, dass unsere Hauptinformationsquellen die negative Meinung über andere Menschen täglich bestärken. "Das erklärt auch, warum die meisten Menschen sich selbst mit einem Grundeinkommen durchaus trauen. Erst wenn man sie fragt, was ihrer Meinung nach andere Menschen tun würden, machen sie sich Sorgen", erzählt Bregman über seine Erfahrungen aus jahrelangen Vortragsreisen und Diskussionen.
Dabei habe Experiment um Experiment gezeigt, dass Menschen mit einem Grundeinkommen eben nicht den ganzen Tag auf der Couch beim Netflixen vergammeln würden. Die wissenschaftliche Empirie ist für den Autor das wichtigste Schwert im Kampf für die Idee: "Jedes einzelne Mal, wenn wir es versucht haben, hat es tatsächlich funktioniert. Die meisten Menschen wollen etwas aus ihrem Leben machen." Eine andere Waffe ist die Sprache. Gerade im Umgang mit hartnäckigen Kritikern versucht Bregman, weg von einer auf Mitgefühl und Moral basierenden Sprache zu kommen, die vor allem links der Mitte verstanden würde. Im Gespräch mit Rechten erzählt er, ein bedingungsloses Grundeinkommen sei "Venture Capital für Menschen". Es könne die Wirtschaft transformieren, dynamischer machen und uns allen dabei noch Geld sparen.
Wenn er seine Argumente für das Grundeinkommen anpasst, damit sie auf offene Ohren stoßen, muss er sich nicht verbiegen: "Ich halte das ja wirklich für wahr. Es wäre die krönende Errungenschaft des Kapitalismus." Es ist für ihn auch die Antwort darauf, dass viele Menschen mit ihren "Bullshit-Jobs" unglücklich sind, während es viel Arbeit gebe, die schlecht oder gar nicht bezahlt, aber sehr wichtig ist. Ein Drittel der Arbeitskräfte findet selbst, dass seine Arbeit nutzlos sei. Das zeigen viele Umfragen in westlichen Gesellschaften - etwa in Großbritannien.
Und dann ist da ja noch die Automatisierung, die ebenfalls nach neuen Antworten verlangen könnte. Frühere technische Revolutionen haben am Ende turbulenter Zeiten mehr Jobs hervorgebracht als vernichtet. Manche glauben, das werde auch bei der heutigen Veränderung wieder so sein. Bregman zweifelt daran. Er sieht eine neue Qualität. Die ersten Maschinen der industriellen Revolution hätten die Muskelkraft ersetzt, aber dem menschlichen Intellekt dadurch sogar mehr Möglichkeiten zur Entfaltung gegeben. Die Computer von heute hingegen setzen nun auch der geistigen Arbeitskraft zu. Dem Menschen gehen die einzigartigen Fähigkeiten gegenüber der Maschine aus, mit denen sich Arbeit immer wieder neu erfinden lässt.
Das gibt Anlass zur Sorge. Gesellschaft und Wirtschaft sind um unser heutiges Konzept von Arbeit strukturiert. Der Arbeitsmarkt ist der Mechanismus, über den Wohlstand an alle verteilt werden soll. Doch diese Funktion verliert er zunehmend. Ein immer kleinerer Teil der Nationaleinkommen fließt in die Arbeitseinkommen. Die Steigerung der Produktivität münzt sich seit Jahrzehnten nicht mehr sich in kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne um. Und wenn die Arbeit nun auch noch insgesamt weniger wird und nicht einmal mehr ansatzweise gleich verteilt werden kann, kann sie auch nicht den Wohlstand für alle zugänglich machen.
Aber das muss nicht schlecht enden, findet Bregman. Der Mensch habe doch seit jeher vom Ende der unvermeidlichen Arbeit geträumt: Endlich zu tun, was man will, statt was man muss. "Utopie" - das klingt im ersten Moment lächerlich, nach weit hergeholten Ideen und träumerisch. Möglicherweise widerspricht es dem Zeitgeist. Hat nicht Bundeskanzler Sebastian Kurz kürzlich in einem etwas anderem Zusammenhang verkündet: "Genauso falsch wie die Hetze ist die Träumerei"?
Doch Bregman erinnert eindrücklich daran, dass wir heute in einer Welt leben, die noch vor einigen Jahrzehnten als "Land wo Milch und Honig fließen" erträumt wurde. "Beginnen wir mit einer kleinen Geschichtsstunde: Früher war alles schlechter", schreibt er in der Einleitung.
Tatsächlich ist auch der heutige Pessimismus über den Fortschritt gar nicht neu. "Wir leiden unter einer bösen Attacke von wirtschaftlichem Pessimismus. Menschen sagen häufig, die Epoche des enormen wirtschaftlichen Fortschrittes sei vorbei und eine Verschlechterung des Lebensstandards wahrscheinlicher als eine Verbesserung", das schrieb der große Ökonom John Maynard Keynes im Jahr 1930.
Wenn aber die Utopien der Vergangenheit heute oft schon Normalität sind, warum sollten dann die mitteleuropäische 40-Stunden-Arbeitswoche oder der Sozialstaat des Jahres 2018 das Ende der Entwicklung sein? "Vor fünf Jahren war es einsam, über das bedingungslose Grundeinkommen zu reden", erklärt Bregman. Es galt als absurd, bizarr - eine Außenseiter-Idee, von der wenige überhaupt gehört hatten. Aber in den letzten Jahren sei etwas passiert. Die Idee habe mehr und mehr Menschen begeistert oder zumindest neugierig gemacht. Sie sickere in den Mainstream. "Ich wurde heuer sogar zum Weltwirtschaftsforum in Davos eingeladen", erzählt Bregman.
Bregman schildert, dass das Grundeinkommen sich mit anderen progressiven Ideen gut verbinden ließe. Etwa mit einer 15-Stunden-Arbeitswoche, die uns vor neun Jahrzehnten schon Keynes prognostiziert hat. Mit dem Kampf gegen Armut. Mit der Öffnung von Arbeitsmärkten (in seinen Augen das größte und effektivste Entwicklungsprogramm aller Zeiten). Die Veränderungen würden aber nicht über Nacht kommen, sondern graduell - und nur wenn man politisch daran arbeite.
Wie wichtig hartnäckiges Träumen ist, zeigen andere Bewegungen der Ideengeschichte: Die letzten "Träumer", die ihre Ideen eine gesellschaftlichen Transformation erfolgreich in den Mainstream träufelten, waren wohl die Neoliberalen der Mont Pelerin Society. Was Friedrich von Hayek, Milton Friedman und Co sich in der Nachkriegszeit in ihrem elitären Außenseiterklub überlegt hätten, habe sich schließlich über den Globus verteilt und durchgesetzt. Oft nutzten sie gerade Schocks und Krisen, um ihre Politiken durchzusetzen.
Leicht ironisch ist, dass viele diese Ideologie nun für das verantwortlich, was die Wirtschaft und mit ihr den Kapitalismus im vergangenen Jahrzehnt in eine große Krise stürzte. Aber eine begeisternde Idee für eine andere Politik sei diesmal nicht bereitgestanden. Die Progressiven hätten eine Chance verpasst. Bregman will sie dazu motivieren, dass ihnen das nicht noch einmal passiert.
"Utopien für Realisten" ist - ob man die Ideen daraus nun aufgreift oder nicht - jedenfalls ein anregender Beitrag.