Vor EM-Halbfinale: Warum Spanien oder Italien den Titel holen sollen
Wir erleben unterhaltsame Spiele, insgesamt aber dennoch eine EM der Fehlervermeidung und Risikominimierung. Nur wenige Teams und Trainer sind bereit, das Spiel proaktiv zu gestalten. Einen taktischen Fehler, der vielleicht zum Ausscheiden führt, will niemand riskieren. Viele haben sich auf die individuelle Fähigkeiten ihrer Spieler verlassen. Die Teamchefs werden vor und während der EURO mit Kritik über falsche Nominierungen, unpassende Systeme oder falsche Spielanlagen konfrontiert. Selbst die Trainer von Spanien und England wurden damit nicht verschont.
Die Anforderungen an National- und Klubtrainer sind fast ident. Unterschiede bestehen in der Vorbereitung auf Wettbewerbe. Für Teamchefs gilt es, eine realisierbare und wenn möglich gemeinsame Spielidee in kurzen Lehrgängen zu implementieren. Bei der Auswahl des Spielmodells gibt es viele Punkte zu berücksichtigen. Jedes Land, jeder Verband, jede Liga und jeder Trainer haben unterschiedliche Bilder davon. Wichtig ist, diese Spielidee konkret und detailliert aufzuarbeiten und mit der Mannschaft umzusetzen, auch wenn sie nicht in jedes Schönheitsbild passt und es einmal von außen Kritik hageln sollte. Wichtig ist die Überzeugung der handelnden Personen wie Trainer, Betreuer, Spieler und Funktionäre.
Kollektiv hat Priorität
Im Halbfinale stehen nun vier Teams, die mit verschiedenen Ansätzen erfolgreich waren. Diese Teams zeichnet aus, dass sie Trainer haben, die eine gemeinsame Spielidee verfolgen und die individuelle Klasse dem Kollektiv unterordnen.
Spanien bevorzugt sein typisches, klar strukturiertes Positionsspiel. Sie haben eine hohe Ballsicherheit, lassen den Ball gut in den eigenen Reihen zirkulieren, gehen nicht viel Risiko im Offensivspiel ein und machen kaum Fehler. Sie kontrollieren den Ball und dadurch auch das Spiel. Ihre Ergebnisse waren zwar bisher nicht so klar wie ihre Spielanlage, bei genauer Betrachtung stehen sie aber völlig zu Recht im Halbfinale. Denn bis auf eine 15-minütige Phase der Abwesenheit im Achtelfinale gegen Kroatien waren sie ihren Gegnern in allen Punkten überlegen.
Italien setzt auf ein dominantes Ballbesitzspiel mit flexibleren Positionen als der Spanier. Sie kombinieren ihre großartige Technik mit einem guten Kurzpassspiel, viel Spielfreude, guten Abläufen in Tornähe und dem Rhythmuswechsel. Die Serie von mittlerweile 32 Spielen ohne Niederlage ist ein Produkt dieser neuen Spielidee und verschafft den Azzurri viel Respekt bei Gegnern.
England ordnet seinen individuell Topbesetzten Kader dem Kollektiv und der Stabilität unter. Sie haben den zweitjüngsten Kader des Turniers mit Toptalenten in ihren Reihen. Teamchef Southgate passt sein Spielsystem den Gegebenheiten an. Mal haben sie mehr Ballbesitz, mal verteidigen sie tief. Sie sind Meister der Effektivität. Sie blieben als einziges Team noch ohne Gegentor und werden auch weiterhin schwer zu knacken zu sein.
Dänemark und sein Trainer hatten nach dem Drama um Christian Eriksen zu kämpfen. Nach Startschwierigkeiten zeigen sie aber inzwischen mit taktischer Flexibilität und frischem und gut strukturiertem Offensivfußball auf. Der Außenseiter kann durch seine variablen Umstellungen im Spiel die Favoriten noch vor große Aufgaben stellen. Die Sympathiewertung bei diesem Turnier haben sie ohnehin schon gewonnen.
Im Sinne der Attraktivität
Mein persönliches Idealbild vom schönen und effektiven Fußball ähnelt dem Spiel der Spanier und Italiener. Daher würde ich mir wünschen, auch im Sinne der Attraktivität, dass eine dieser beiden Mannschaften Europameister wird. Denn meine Überzeugung ist: Spiele werden im Spiel mit dem Ball entschieden und nicht in der Phase ohne den Ball.