Sport/Fußball-WM

Vor dem Halbfinale sind zwei Länder außer Rand und Band

Man möchte den Kroaten, und natürlich auch den Engländern, fast wünschen, dass sie am Mittwoch (20 Uhr, KURIER.at-Liveticker) ausscheiden. Damit in den beiden Ländern nicht alles völlig außer Rand und Band gerät. Nicht auszudenken, was da wie dort erst los sein wird, wenn tatsächlich die historische Finalteilnahme perfekt ist.

Schon jetzt spielen sich in der Heimat der beiden Semifinalisten Szenen ab, wie man sie in dieser Form aus anderen Nationen kaum kannte. In England und Kroatien steht am Mittwoch das Leben still, weil alles Kopf steht wegen der Three Lions und der Vatreni, wie die Nationalteams genannt werden.

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Angesichts der allgemeinen Fußballeuphorie geriet sogar der englische Außenminister Boris Johnson mit seinem Rücktritt ins Abseits. „Wisst ihr nicht, dass da ein verdammtes Spiel ansteht?“, kritisierte die Sun den Zeitpunkt des Abgangs. Was ist schon der Brexit eines Politikers gegen den möglichen Einzug in das zweite WM-Endspiel der Geschichte? Wer ist schon Boris Johnson neben Harry Maguire?

Hype Park

Es gibt einen englischen Fan, der sich Maguires Konterfei auf das Bein hat tätowieren lassen, nachdem der Verteidiger im Viertelfinale gegen Schweden das 1:0 erzielt hatte. „Das WM-Fieber hat London und die ganze Nation gepackt“, erklärt Londons Bürgermeister Sadiq Khan. Der berühmte Hyde Park wird am Mittwoch wieder zum Hype Park – wegen des großen Andrangs zum Public Viewing wurden die 30.000 Tickets für das Halbfinale verlost.

Nicht anders ist die Situation in Kroatien. Nachdem die Nationalmannschaft zum zweiten Mal in der Geschichte in einem WM-Halbfinale steht, herrscht im Vier-Millionen-Einwohner-Land eine Mischung aus Euphorie und Ekstase, die bisweilen ins Gefährliche und Unangenehme überschwappt. Letzte Woche mussten knapp hundert Menschen von der berühmten „Liebesinsel“ bei Zadar evakuiert werden, nachdem Anhänger mit ihren bengalischen Freudenfeuern einen Flächenbrand verursacht hatten. Nach dem Semifinaleinzug spielten sich in Wien-Ottakring in der Nacht auf Sonntag wüste Szenen ab.

Straßenfeger

In Kroatien dreht sich am Mittwoch alles um das mögliche Endspiel in Moskau. Die Abendvorstellungen in den Theatern wurden abgesagt, weil ohnehin niemand kommen würde, im ganzen Land schließen die Supermärkte vorzeitig.

Manche Kroaten stürzen sich sogar in Schulden, nur um das Spiel hautnah erleben zu können. Die Sberbank in Zagreb verzeichnete in den letzten Tagen einen signifikanten Anstieg (30 Prozent) der kurzfristigen Kredite.

Überhaupt lenken die Erfolge des Nationalteams von vielen Problemen ab, mit denen Kroatien gerade konfrontiert ist. Die Wirtschaftszahlen sind besorgniserregend, die Staatsspitze ist zerstritten, die Jugendarbeitslosigkeit enorm, weshalb vor allem die junge Generation ins Ausland abwandert.

Umgekehrt hat der Durchmarsch der Three Lions England zu einer Insel der Seligen werden lassen. Zumindest kurzfristig scheinen die Alltagssorgen rund um den Brexit vergessen. Prinz William hat in seiner Fußballbegeisterung sogar entgegen den Gepflogenheiten persönlich Twitter-Meldungen verfasst. „Ihr wolltet Geschichte schreiben, und nun tut Ihr genau das“, meinte der englische Thronfolger.

It’s coming home – das ist das große Motto in England. Der Refrain des Kultsongs der Lightning Seeds ist derzeit in aller Munde. In den Sozialen Netzwerken kursieren Tausende Videos, in denen sich die Engländer bei der Darbietung der Hymne regelrecht überbieten. So spielte etwa das Royal Corps vor dem Buckingham Palace kurzerhand den Song, ein anderes Video zeigt einen Mann, der bei seiner Hochzeit das Lied auf den Fußball anstimmt.

Wieder vereint

Und sollten die Engländer am Ende doch nicht mit dem WM-Pokal zurückkehren, dann wird es zumindest private Erfolgserlebnisse zu feiern geben. In neun Monaten. England rechnet mit einem Anstieg der Geburtenrate um zehn Prozent. Ein Psychologe erklärte in der Sun: „Diese WM hat die Nation nach Jahren der Unsicherheit wegen Brexit, Donald Trump und Terrorgefahr vereint. Die Menschen sind wieder optimistisch, dass ihre Kinder eine Zukunft haben.“