Pensionsexperte Marin beklagt "türkis-blaues Durchschummeln"
Von Michael Bachner
KURIER: Wie steht es um das Pensionssystem?
Bernd Marin: Unverändert. Kein akuter Alarm. Aber es ist nicht nachhaltig: Bis Ende des Babyboomer-Ruhestands 2034 gibt es ernste Turbulenzen und Krisen. Bis dahin gehen 1,9 Millionen Menschen in Pension. Daher sind Reformen jetzt nötig.
Warum hört man – vielleicht mit Ausnahme der Neos – im Wahlkampf nichts über nötige Reformen?
Fragen Sie bitte die verantwortlichen Parteifunktionäre und Regierungsanwärter! Das Fehlen des nötigen Fast-Allparteienkonsenses wie in Schweden und der Schweiz ist brandgefährlich. Mit jedem Dodel-Thema kann man mehr Stimmen fangen und weniger riskieren als mit komplexen Existenzfragen, obwohl Pensionen den Großteil der Sozialausgaben und jedes Jahr weit über eine Hypo-Alpe-Adria an Zuschuss verschlingen – auf Kosten von Investitionen und Zukunft, Standort, Klima, Jugend, allem.
Die Pensionen wurden zuletzt kräftig erhöht. Gerecht, ungerecht, nur der Wahl geschuldet?
Für 2020 wurde fortgesetzt, was nicht erst 2017 begonnen hat. Das war jetzt teurer als im Wahlkampf 2017, aber weniger exzessiv als die milliardenschweren Wahlzuckerln 2008. Umverteilung ist nicht ungerecht, aber derzeit ungesetzlich. Man könnte das leicht umverteilende Stufenmodell legalisieren, statt regelmäßiger Gesetzesverletzungen durch willkürliches Ermessen und neofeudales Gaben-Verteilen nach „Gutsherrenart“. Das Grundproblem bleibt bestehen: Österreich ist bei der Erstpension viel zu großzügig, bei der jährlichen Pensionsanpassung viel zu kleinlich.
Wie das?
Zu großzügig, weil die Leistungsversprechen durch die Pensionsbeiträge nicht annähernd gedeckt sind. Und viel zu kleinlich, weil Rentner längerfristig immer weiter hinter die Wirtschaftsentwicklung zurückfallen – der Durchschnittspensionist kriegt nicht einmal die Teuerung abgegolten. Das führt tendenziell Richtung Grundversorgung und Volkspension und weg von der viel beschworenen Lebensstandardsicherung und Beitragsgerechtigkeit.
Sie kritisieren seit Langem die Luxuspensionen bei Nationalbank & Co. Hat Türkis-Blau dieses Problem in den Griff bekommen?
Leider keineswegs. Türkis-Blau hatte zwar „eine konsequente und nachhaltige Abschaffung aller noch verbliebenen Pensionsprivilegien“ und „im Gegenzug“ bessere Wertsicherung für alle im Ruhestand versprochen, aber nicht damit begonnen. Das ist sehr enttäuschend, aber ist es erstaunlich? Günstlinge der Parteibuchwirtschaft mit Sonderpensionen bleiben völlig verschont. Dagegen wurden die viel gepriesenen „Fleißigsten“, die über das reguläre Pensionsalter hinaus weiterarbeiten, von ihren hohen „Einbußen“ nicht befreit. Es gibt weder den versprochenen „Entfall der Beitragspflichten“ noch die „Änderung des Prozentsatzes bei der Korridorpension bei längerem Arbeiten“ und andere Versprechen.
Welche Herausforderungen kommen im Pensionsbereich auf die künftige Regierung zu? Die To-do-Liste ist seit allzu Langem unverändert: Sie reicht von mehr Jobs
für die unterbeschäftigten Randgruppen der jungen und älteren Erwerbstätigen über die raschere Harmonisierung der Beamten und Stopp der Frühpensionierungen im öffentlichen Dienst bis hin zum Verkleinern des Gender-Pensions-Gaps. Derzeit bekommen Frauen um mehr als 40 Prozent weniger Pension als Männer. Ein Dauerbrenner bleibt auch das weitere Anpassen des faktischen und des gesetzlichen Antrittsalters an die Langlebigkeit
– idealerweise automatisch um ein bis zwei Monate jährlich. Und wie versprochen die „sofortige“ Beendigung der kalten Progression und privilegierter Luxus- und Sonderpensionen.
Ihre Bilanz der letzten Regierung? Statt „Zeit für Neues“ gab es uralte Pensionspolitik – Türkis-Blau hat viele rote Positionen gegen traditionell schwarze übernommen und eine Wende rückwärts vollzogen. Die ÖVP und die FPÖ haben stimmenmaximierend Rechtsaußenpositionen zu Migration und Europa mit populärer traditionell linker „Wohlfühl“-Politik bei Pflege und Pensionen kombiniert. Die Kurz-ÖVP und die FPÖ stehen für türkis-blaues Durchschummeln, Ernst Jandls „lechts und rinks“. Kurz sagt – im Gegensatz zu früher und zu seinem langjährigen Berater und Bildungsminister Heinz Faßmann –, „die Pensionen sind sicher ... wenn wir das System vor zu viel Zuwanderung schützen“; wohl wissend, dass das Gegenteil wahr ist und selbstverständlich weiter sein wird.