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Türkei hat gewählt: Ist das das Ende Erdoğans?

Lange sah es so aus, als ob Präsident Recep Tayyip Erdoğan – allen Umfragen zum Trotz  – die Nase vorne hätte. Stundenlang sah ihn die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu auf dem ersten Platz, sogar bei über 50 Prozent, die er für einen Sieg in der ersten Runde benötigen würde. Doch der Vorsprung schwand, und um kurz nach 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit änderte sich alles: Der Amtsinhaber fiel unter die entscheidende Marke. Sein Herausforderer des Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu, lag da bei knapp 44 Prozent.

Eine Stichwahl in zwei Wochen scheint seitdem immer wahrscheinlicher. Möglich ist aber auch, dass sich in den kommenden Stunden alles nochmal dreht. Denn als wirklich aussagekräftig gelten diese Ergebnisse der Auszählung noch immer nicht.

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Manipulationsvorwürfe

Denn erstens wird mit der  Auszählung traditionell in jenen östlichen Regionen des Landes begonnen, die als Hochburgen von Erdoğans islamisch-konservativer AKP gelten. Die tendenziell liberaleren Großstädte des Westens, etwa Istanbul, waren in der Wertung zunächst also noch nicht enthalten. Zweitens herrschte Unklarheit über den genauen Auszählungsgrad, der zu der Zeit nirgendwo öffentlich aufschienen. Laut Wahlbehörde könnte der Auszählungsgrad kurz vor Mitternacht gerade knapp über der Hälfte gelegen haben. Stattdessen wurde der Anteil der geöffneten Wahlurnen – ein wesentlicher Unterschied – von der staatlichen Agentur vermeldet. Der lag kurz vor Mitternacht bei bereits 93 Prozent.

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Die CHP warf der AKP zudem vor, mit einem standardisierten Einspruchsschreiben bei all jenen Urnen, bei denen die Opposition gut abschnitt, eine Neuauszählung zu beantragen. In manchen Bezirken Istanbuls soll bereits zum elften Mal nachgezählt worden sein. Kılıçdaroğlus Partei sprach von einer Täuschungsstrategie der Regierung, einem bewussten Zurückhalten der Stimmen für die Opposition. Präsident Erdoğan wiederum unterstellte der Opposition eine "Missachtung des nationalen Willens". 

Ein aussagekräftiges Ergebnis könnte demnach erst im Laufe des  Montags vorliegen. Gewinnt keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, ist am 28. Mai eine Stichwahl geplant. 

Kılıçdaroğlu wie auch Erdoğan riefen ihre Anhänger dazu auf, die Auszählung bis zum Ende zu verfolgen. "Wir werden heute Nacht nicht schlafen", schrieb Kılıçdaroğlu auf Twitter. Nach schlafen war den Anhängern aber sowieso nicht zumute: Sie feierten bis spät auf den Straßen ihre Favoriten.

60,7 Millionen Menschen waren am Sonntag zur Stimmabgabe aufgerufen. Die 3,4 Millionen türkischen Staatsbürger im Ausland hatten bereits in den vergangenen Wochen ihre Stimmen abgegeben.

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Erdoğan hatte zuvor seine Stimme am Sonntag in der Millionenmetropole Istanbul abgegeben – dort, wo seine Aufstiegsgeschichte  aus einem Hafenviertel in den 1.000-Zimmer-Präsidentenpalast einst begonnen hat. "Ich hoffe bei Gott, dass das Ergebnis nach Abschluss der Auszählung heute Abend gut für die Zukunft unseres Landes und die türkische Demokratie ist", sagte der Präsident. Kılıçdaroğlu, der Spitzenkandidat des Oppositionsbündnisses, hatte in Ankara gewählt. Seine Stimmabgabe war von "Alles wird gut, der Frühling wird kommen"-Rufen seiner Anhänger begleitet worden.

Die Türkei in den "Frühling" zu führen, als Synonym für einen "Neuanfang", das war das große Versprechen des 74-Jährigen gewesen. Darunter verstand er vor allem, Erdoğans auf sich zugeschnittenes Präsidialsystem abzubauen und die Türkei vom politischen Islam  zu befreien. Damit konnte er vor allem bei weniger Konservativen, Frauen und Jungen punkten.   

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Rekordbeteiligung?

Was sich jedoch bereits kurz nach der Schließung der Wahllokale um 17 Uhr Ortszeit abzeichnete: Die Demokratie in der Türkei ist nach wie vor stark. In den letzten Jahren lag die Wahlbeteiligung stets bei weit über 80 Prozent, erste Medienberichte sprachen diesmal sogar von über 90 Prozent und einem neuen Rekord.

Cengiz Günay, Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik (oiip), zur Zeit der Wahl in Istanbul, berichtete dem KURIER von Wartezeiten bis zu eineinhalb Stunden vor den Wahllokalen. Seine vorsichtige Prognose: "Wir wissen aus der Geschichte, dass jedes Mal, wenn es zu einer derart hohen Wahlbeteiligung kam, ein wichtiger Richtungswechsel in der Politik erfolgte."

Die Stimmung sei zudem sehr positiv gewesen. Zusammenstöße, wie sie bei vergangenen Wahlen vorgekommen waren, wurden kaum gemeldet. In der Nacht gab es in den sozialen Berichte über Zusammenstöße und Schüsse in den vorwiegend kurdisch bewohnten Gebieten im Osten des Landes, die bei der Wahl vorwiegend für die Opposition gestimmt haben dürften. Auch die offizielle Stimmeintragung dort soll behindert worden sein. Unabhängig prüfen ließen sich die Vorwürfe nicht.

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Große Unsicherheit

Wer auch immer Präsident der Türkei bleibt oder wird: Experten sind sich einig, dass es in den nächsten Wochen nach der Wahl nicht sofort bergauf gehen wird für das Land und seine Bevölkerung, sondern Unsicherheit und Instabilität vorherrschen werden. Vor allem, was die katastrophale wirtschaftliche Lage der Türkei anginge, die als ausschlaggebend für das Wahlergebnis galt. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) rechnet etwa mit einer anhaltenden hohen Inflation (April: 43,7 Prozent laut offiziellen Zahlen), einer weiteren erheblichen Abwertung der Lira (Experten rechnen mit bis zu 30 Lira für einen Dollar, im Moment steht der Kurs bei rund 20 Lira) und einem weiterhin geringem Wirtschaftswachstum – all dies könnte die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise noch erhöhen.

Kılıçdaroğlu hat im Falle eines Sieges angekündigt, die Wirtschaft wieder stärken zu wollen – vor allem durch die Anhebung des Leitzinses, was Erdoğan bis zuletzt abgelehnt hatte. Mit einer schnellen und signifikanten Erhöhung rechnet das wiiw jedoch nicht: Damit würden nur die Banken unter Druck gesetzt und die Kaufkraft der Bevölkerung weiter geschmälert. Dazu werden demnächst erhebliche Investitionen erforderlich sein, um die Erdbebengebiete im Südosten des Landes wieder aufbauen zu können.

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Erdoğans Ende?

Der in den letzten Jahren immer autoritärer regierende Präsident hat sich am Samstagabend zu den Befürchtungen geäußert, ob er denn eine Wahlniederlage anerkennen würde: "In der Türkei kommen wir mit demokratischen Mitteln an die Macht", sagte Erdoğan in Istanbul. Wenn sich die Nation gegen ihn entscheide, werde er tun, "was die Demokratie erfordert".

Dass Erdoğan im Falle einer Niederlage den "starken Oppositionsführer" gibt, bezweifelt auch Günay. Er glaubt mittlerweile sogar an einen endgültigen Rückzug des Präsidenten aus der Politik bei einem Sieg der Opposition. Was das für Erdoğans AKP bedeuten würde, die komplett auf seine Person ausgerichtet ist und nur mehr wenig Inhaltliches zu bieten hat, ist unklar.