Russlands Krim-Brücke bald Angriffsziel? + Erneut Schwere Gefechte im Donbass
Russische Truppen stehen offenbar kurz zuvor, die völlige Kontrolle über das strategisch wichtige Sewerodonezk zu übernehmen. Alle Wohnviertel der Donbass-Stadt seien vom Gegner eingenommen, hieß es am Mittwoch aus Kiew. Die ukrainischen Verteidiger verschanzten sich weiter in der Industriezone rund um das Chemiewerk Azot. Alle Evakuierungsversuche von Zivilisten, die ebenfalls in der Anlage ausharren sollen, sind bisher gescheitert.
In ihrem Abwehrkampf gegen Russland sieht die Ukraine inzwischen auch die wichtige russische Brücke auf die Halbinsel Krim als militärisches Ziel. Als eine Art Drohgebärde veröffentlichte der ukrainische Militärgeheimdienst am Donnerstag eine angebliche offizielle russische Baubeschreibung der Brücke mit Details der Konstruktion. Die Echtheit des knapp 300 Seiten langen Dokuments war nicht sofort zu überprüfen.
"Ziel Nummer 1"
Tags zuvor hatte der ukrainische General Dmytro Martschenko gesagt, wenn die Ukraine die dafür notwendigen Waffen erhalte, sei die Zerstörung der Brücke "Ziel Nr. 1". Schließlich rolle der russische Nachschub über die Brücke auf die Krim und von dort weiter in den Süden der Ukraine. Die mit Milliardenaufwand gebaute, 18 Kilometer Brücke über die Meerenge von Kertsch verbindet seit 2018 das russische Festland und die vier Jahre zuvor annektierte Halbinsel.
Russland drohte mit Vergeltung in Kiew
In Moskau betonte Kremlsprecher Peskow am Donnerstag, dass alle Vorkehrungen für die Sicherheit der Krim getroffen seien. Der Kreml kenne die neuen Drohungen aus Kiew gegen die Brücke. Aus Moskau hatte es schon vorher Drohungen gegeben, im Fall eines Angriffs auf das Bauwerk die ukrainische Hauptstadt Kiew zu bombardieren.
Außenminister Sergej Lawrow sagte, Martschenkos Drohung widerspreche den Zusagen von Präsident Wolodimir Selenskyj gegenüber westlichen Partnern. Dieser habe zugesichert, Waffen mit hoher Reichweite nicht zu Angriffen auf russisches Territorium einzusetzen. Allerdings betrachtet die Ukraine die Krim weiter als ihr Staatsgebiet.
"Wirklich alle Gebiete befreien"
Auch der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow verband in einem Interview die erhoffte Rückeroberung von Gebieten mit den Waffenlieferungen aus dem Ausland. "Wir werden alle unsere Gebiete befreien, wirklich alle, auch die Krim", sagte er in Brüssel dem US-Sender CNN. Zunächst müsse aber der laufende russische Angriff gestoppt werden. Dann gehe es darum, russische Truppen aus den seit 24. Februar eroberten Gebieten zu vertreiben. Als drittes werde man mit den Partnern besprechen, wie weitere Territorien, darunter die Krim, zurückerobert werden könnten.
Andere ukrainische Militärs hatten zuletzt eine Zerstörung der Brücke für unmöglich erklärt, weil die eigenen Truppen zu weit vom Asowschen Meer entfernt seien.
Schwere Gefechte im Donbass
In der Ostukraine liefern sich ukrainische und russische Truppen weiter schwere Kämpfe in den Gebieten Luhansk und Donezk. In Richtung der Stadt Bachmut gebe es russische Angriffe "zur Verbesserung der taktischen Lage", teilte der ukrainische Generalstab am Donnerstag auf Facebook mit. Unter Artilleriebeschuss stünden die Orte Wessele, Soledar, Berestowe und Wowtschojariwka.
Schwere Kämpfe gebe es zudem bei der Separatistenhochburg Donezk. Auch in Richtung von Slowjansk gebe es Angriffsbemühungen der Russen. Im benachbarten Luhansker Gebiet sei weiter die Stadt Sjewjerodonezk besonders hart umkämpft. Ein Teil der Industriestadt stehe dabei noch immer unter ukrainischer Kontrolle. Artilleriebeschuss gebe es auch an Frontabschnitten in den Gebieten Charkiw, Saporischschja, Cherson und Mykolajiw.
In Sjewjerodonezk halten sich nach ukrainischen Angaben noch tausende Zivilisten auf. "Von den 100.000 Einwohnern sind noch etwa 10.000 dort, die Opfer nicht mitgerechnet", erklärte der Gouverneur der Donbass-Teilregion Luhansk, Serhij Hajdaj, am Donnerstag. Die ukrainische Armee halte "den Feind so gut es geht zurück". Die russische Armee verliere dort "hunderte Kämpfer", aber bringe stets neuen Nachschub. Sie "setzen die Zerstörung von Sjewjerodonezk fort". Es ist die letzte größere Stadt der Region Luhansk, die Russland bisher nicht erobert hat.
Von Russland unterstützte Separatisten kündigen indes erneut einen humanitären Korridor in Sjewjerodonezk an. Der Separatistenführer Leonid Pasetschnik wird von der Nachrichtenagentur Interfax mit den Worten zitiert, man werde den Korridor wieder öffnen, damit Zivilisten die Chemiefabrik Asot verlassen könnten. Dort würden Hunderte Zivilisten ausharren.
Zuletzt schienen die russischen Truppen kurz davor, die Stadt gänzlich unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie zerstörten drei Brücken nach Lyssytschansk, weshalb die verbleibenden ukrainischen Truppen weitgehend abgeschnitten sind.
In Lyssytschank starben nach Angaben des Gouverneurs von Luhansk bei einem Luftangriff auf ein Gebäude mindestens drei Menschen. Mindestens sieben weitere Menschen seien verletzt, teilte Serhij Gaidai auf Telegram mit.
In der Stadt Sumi im Nordosten wurden nach Angaben des dortigen Gouverneurs Dmytro Schywyzkii in der Nacht vier Menschen durch russischen Raketenbeschuss getötet. Sechs weitere Personen seien verletzt worden. Auch der Bezirk Dobropillia an der Grenze zu Russland sei beschossen worden.
Zwei als freiwillige Kämpfer in die Ukraine gereiste US-Amerikaner werden unterdessen vermisst. Nach Angaben von Angehörigen und US-Abgeordneten vom Mittwoch (Ortszeit) könnten die beiden Männer aus dem US-Bundesstaat Alabama von Russland gefangen genommen worden sein. Alexander Drueke und Andy Tai Huynh hatten demnach als Freiwillige für die ukrainischen Streitkräfte gekämpft und waren zuletzt an Gefechten nördlich der ukrainischen Stadt Charkiw beteiligt.
Die Ukraine verteidigt sich mittlerweile seit fast vier Monaten gegen den von Russland begonnen Angriffskrieg. Die Vereinten Nationen haben bisher mehr als 4.400 getötete Zivilisten erfasst, gehen aber - wie auch Kiew - von weitaus höheren zivilen Opferzahlen aus.
Bereit für Friedensgespräche
Nach Angaben des russischen Verhandlungsführers, Wladimir Medinski, ist Russland bereit, Friedensgespräche mit der Ukraine wieder aufzunehmen. Man habe aber noch keine Antwort auf die jüngsten russischen Vorschläge erhalten, so Medinski laut der Nachrichtenagentur Interfax. Für die mangelnden Fortschritte sei die Regierung in Kiew verantwortlich.
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