Menasse: "Unrechtsbewusstsein und Scham hat es kaum gegeben"
Viel Licht, Bilder von Pflanzen und Vögeln an den Wänden, Bücherregale bis zur Decke hoch. Hans Menasse sitzt am Esstisch in der hellen Altbauwohnung seiner Tochter, Schriftstellerin Eva, in Berlin-Wilmersdorf. Der 88-jährige ehemalige Fußballnationalspieler ist zu Besuch aus Wien. Nein, nicht, weil sie oder ihr Bruder Robert Menasse einen Preis für ein Buch bekommen haben. Der Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, der 1938 Österreich verlassen musste, ist hier, um seine Geschichte zu erzählen. Eine, über die er lange geschwiegen hat. Seine Eltern, die den Holocaust in Wien knapp überlebt hatten, haben nichts anderes gemacht und sich lautlos integriert, wie seine Tochter feststellt. Ein Grund, warum sie nicht anders kann, als sich immer wieder über die Verfolgung ihrer Familie und den Umgang mit der Vergangenheit zu äußern.
KURIER: Herr Menasse, als Sie acht Jahre alt waren, haben Ihre Eltern Sie nach England fortgeschickt, ohne zu wissen, ob sie einander je wiedersehen. Haben Sie sich im Stich gelassen gefühlt?
Hans Menasse: Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass sie uns weggeschickt haben von den Kriegsgräueln, weil es zu unserem Besten war.
Im Roman „Vienna“ skizziert Ihre Tochter die Familiengeschichte, und da kommt dieser Satz vor: „Jetzt hätte ich dich wegschicken müssen.“
Eva Menasse (zu ihrem Vater): Das ist eine der wenigen Sachen, an die ich mich erinnere, die du zu mir als Kind gesagt hast: So alt wie du jetzt bist, hätte ich dich wegschicken müssen. Das hast du auch zu Tina (Schwester Anm.) gesagt, als sie acht Jahre war.
Hans Menasse: Nachträglich betrachtet, denke ich, es war ja viel schrecklicher für die Eltern als für uns Kinder.
Eva Menasse: Jedenfalls der Moment des Abschieds.
Hans Menasse: Ich habe mir damals gedacht, das ist jetzt lustig, ein Abenteuer, Urlaub. Wir fahren irgendwo zusammen hin, die Eltern kommen bald nach, alles ist in Ordnung ...
Haben Ihre Eltern versucht, auszureisen?
Hans Menasse: Mit dem Kindertransport war es nicht möglich (nur eine begrenzte Zahl jüdischer Kinder bis 17 Jahre durfte 1938/39 ausreisen, Anm.).
Eva Menasse: Sie haben sich vergeblich um Visa für andere Länder bemüht.
Hans Menasse: Es wollten ja alle weg, man sieht heute noch die Fotos mit den langen Schlangen vor den Konsulaten.
Sie haben einander neun Jahre lang nicht gesehen, erst 1946 erfuhren Ihre Eltern, wo Sie lebten. Mit welchem Gefühl sind Sie 1947 nach Wien zurückgekehrt?
Hans Menasse: Ich war ahnungslos, was mich erwartet. Ich bin in eine unsichere Zukunft gefahren. Wir haben in England vom Krieg wenig mitbekommen. Ich habe keine Ahnung gehabt, wie es in Wien aussehen wird. Ich war baff, als ich nach Hause gefahren bin, auf einem offenen Lastwagen. Es war so viel zerstört, nicht ganz so wie heute in Syrien, aber ähnlich kaputt, total ausgebombt.
Dann standen Sie Ihrer Familie gegenüber.
Hans Menasse: Ich habe kein Wort Deutsch gesprochen. Mein älterer Bruder hat alles gedolmetscht. Wir sind an einem Vormittag angekommen, haben zu essen bekommen. Dann war ich alleine mit den Eltern, wir konnten kaum etwas reden. Das war mystisch.
Ihre Großmutter wurde im Konzentrationslager ermordet, die Eltern überlebten nur knapp in einer Sammelwohnung, wollten nie darüber sprechen.
Hans Menasse: Das war für mich ein Rätsel. Es tut mir heute leid, dass ich nicht nachgebohrt und mehr gefragt habe. Meine Mutter hat manchmal damit angefangen, dann hat der Vater gleich gesagt: „Hör auf, gib’ a Ruh’!“ (gestikuliert heftig mit den Armen). Aber, wenn er nicht da war, hat sie mir ein paar Kleinigkeiten erzählt. Wie, dass sie immer Angst hatte, wenn er seinen Judenstern runtergenommen hat und ins Kaffeehaus ging oder zu einem Fußballmatch.
Eva Menasse: Man hat uns Kindern nur die guten Geschichten erzählt – auch die, die ich bis heute nicht so ganz glaube. Wie, dass sich der Opa regelmäßig den Judenstern runtergenommen haben soll. Das wurde gerne als Anekdote in meiner Familie erzählt. Das war immer so die Art, alles umzubiegen, in eine tolle Überlebensgeschichte, die es ja auch ist.
Davon haben Sie erst später fahren.
Eva Menasse: Als ich es dann kapiert habe, habe ich mit besonderer Penetranz nachgefragt. Ich bin mehrmals bei meinem Vater und bei seinem Bruder Kurt mit dem Kassettenrekorder aufgetaucht und habe gesagt: „So jetzt red ma darüber“. Aber ich verstehe das Schweigen inzwischen.
Wie hat sich das auf Ihre Familie ausgewirkt?
Eva Menasse: Was mein Bruder und ich gemeinsam haben – und das ist nicht immer angenehm: Wir haben immer die Gosch’n aufgerissen, wie man in Österreich sagt. Das ist bestimmt die Reaktion auf das Schicksal unseres Vaters. Sein Leben war davon bestimmt, die Gosch’n zu halten. In England: Ich bin österreichischer Jude, aber ich rede jetzt Englisch. In Österreich: Es ist okay für mich, wenn alle glauben, ich bin Engländer, und ich werde nicht extra sagen, das stimmt nicht. Auch sein Vater, mein Großvater, hat ja nicht mehr darüber geredet. Aus der Erfahrung derer, die es erlitten haben, ist es total verständlich und richtig. Aber für uns, die im Wohlstand aufgewachsen sind, empfinde ich es als Verpflichtung, nicht ruhig zu sein. So geht es meinem Bruder auch. Wenn wir ganz normale österreichische Eltern hätten, wären wir nicht das, was wir heute sind.
Hans Menasse: Ich bin stolz und immer noch überrascht, dass ich solche Kinder habe (lacht).
Herr Menasse, wie fanden Sie das, als Ihre Tochter auf einmal Fragen stellte?
Hans Menasse: Es hat mir gefallen, dass sie Interesse hatte. Bei mir war es ähnlich: Dadurch, dass ich keine Ahnung hatte vom Kriegsverlauf – es wurde lange nichts berichtet über die Konzentrationslager – habe ich später versucht, alles aufzuschnappen, viel gelesen. Ich habe immer gesagt, ich bin ein Masochist, denn es hat mich natürlich gequält, aufgewühlt.
Eva Menasse: Die Juden haben sich, wenn sie zurückgekommen sind, lautlos integriert und geschwiegen, das ist eine unglaubliche Leistung. Und wenn jetzt der eine oder andere was sagt, heißt es: „Jetzt muss einmal Ruhe sein.“ Das ärgert mich unglaublich. Ich habe für meinen Roman „Vienna“ in der Nationalbibliothek viele Zeitungen von damals gelesen, und zum Beispiel solche Geschichten gefunden: Ein Mann kommt zurück, sagt die Hausmeisterin zu ihm: „Na, Sie sind wieder da? Und wir haben geglaubt, Sie sind verbrannt worden.“ Also, was Carl Merz und Helmut Qualtinger im „Herrn Karl“ gemacht haben, ist nur abgeschrieben von dem, was die Leute gesagt haben. Unrechtsbewusstsein und Scham hat es kaum gegeben.
Die Wohnung Ihrer Großeltern bzw. Eltern wurde arisiert, sie haben sie nie zurückbekommen.
Eva Menasse: In der Judensammelwohnung sind sie geblieben, in einem dunklen, kleinen Loch im zweiten Bezirk.
Hans Menasse: Dorthin bin ich zurück gekommen.
Eva Menasse: Es gibt diese Geschichte, wo der Onkel Kurt zum Großvater gesagt hat: „Komm wir gehen jetzt noch einmal hin (in die arisierte Wohnung, Anm.)“. Und er war dort nicht so freundlich, wie du es erzählt hast. Er hat den Mann schon Angst spüren lassen. Er hat Karl Rainer geheißen, ein Fußballspieler aus dem Wunderteam. Er hat einen Wikipedia-Eintrag, dort stehen alle sportlichen Leistungen. Ich hätte gern, dass einmal jemand dort einträgt: Karl Rainer war der Ariseur der Familie Menasse. Man kann es durchschnittlichen Österreichern immer noch schlecht erklären, wie sich das anfühlt, dass man drei Tage Zeit hat, seine Wohnung zu verlassen, nur das Nötigste mitnehmen darf und auch keiner sagt, wo man hin soll. Die sind mit einem Pferdewagen von der Wohnung, aus der sie rausgeschmissen wurden, zur Großmutter gezogen. Es hat später ja auch niemand gesagt: Entschuldigung, kommt wieder zurück. Der Erste, der damit angefangen hat, war Leon Zelman mit dem „Jewish Welcome Service“, aber das war ja selbst ein Jude, der ältere Juden nach Wien eingeladen hat.
Österreich blieb lange untätig ...
Eva Menasse: Wann ist denn die Raubkunstdebatte gekommen? In den Neunzigern? Ein halbes Jahrhundert später! Riesige Vermögenswerte wurden den jüdischen Familien gestohlen und nichts ist zurückgekommen. Es hat sich auch niemand für die Geschichte meines Vaters interessiert, erst jetzt in diesem hohen Alter, das viele andere gar nicht mehr er lebt haben.
Hatten Sie nach Ihrer Rückkehr nie Zweifel, ob das noch das Land ist, wo Sie leben möchten?
Hans Menasse: Ich habe mir ganz einfach gedacht, ich muss zu meinen Eltern zurück. Wenn ich mir das länger überlegt hätte, dann hätte ich gesagt: Mir geht es hier gut in England, ich wohne bei einer netten Pflegefamilie, ich habe Freunde, bin integriert, spiele Fußball, es war der Fußballklub Arsenal an mir interessiert. Und ich habe einen Job gehabt, was für einen 17-Jährigen nicht selbstverständlich war. Unter diesen Voraussetzungen hätte ich bleiben müssen.
Eva Menasse: Hast du in Wien Heimweh gehabt nach England?
Hans Menasse: Ja und nein. Ich habe den englischen Fußball vermisst, die englischen Zeitungen und alles, was Englisch ist. Mein Vater hat mir dann gesagt, in der Kärntner Straße ist ein English Reading Room. Ich bin jeden Tag mit der Straßenbahn hin und habe den Vormittag damit verbracht, dort Zeitungen zu lesen. Ich war happy. Ohne das hätte ich nicht gewusst, was ich machen soll.
War Ihre jüdische Herkunft später je ein Thema?
Hans Menasse: Als ich zurückkam und Fußball gespielt habe, ist überall gestanden: Bei der Vienna spielt jetzt ein Engländer, nicht ein Jude. Wir waren nicht besonders religiös, auch nicht vor dem Krieg.
Eva Menasse: Man hat die Menschen aus reiner Willkür markiert. Genausogut hätte man sagen können, alle Rothaarigen müssen ins KZ. Daher ist es für die Betroffenen im Nachhinein wirklich nicht wichtig, ob sie religiös waren oder nicht.
Für viele Menschen sind heute Flüchtlinge ein Feindbild. Sehen Sie Parallelen zu Ihrer Situation?
Hans Menasse: Teilweise ja. Dass jene fliehen, die in Lebensgefahr sind, wo Bomben fallen, ist klar. Den armen Teufeln soll man helfen. Aber es können nicht Menschen kommen, nur um bessere Lebensbedingungen zu haben.
Eva Menasse: Die Art und Weise, wie Flüchtlinge aufgenommen und versorgt werden, ist bereits eine politische Entscheidung. In Bayern fördert die CSU absichtlich Massenunterkünfte und will nicht, dass die Leute verteilt werden. Es gibt hier in Deutschland ein Dorf, das sollte eine bestimmte Anzahl aufnehmen. Weil es den Menschen zu viel war, haben sie gesagt: Wir nehmen weniger auf, aber um die kümmern wir uns. Das ist nun eine Vorzeigegemeinde. Wenn man Hunderte Menschen ohne jede Perspektive in eine Halle steckt, wird sich das abspielen, was sich eben abspielt.
Hans Menasse: Die FPÖ hat ja vorgeschlagen, sie in der Peripherie in Camps zu bringen.
Eva Menasse: Damit schürt man Gewalt und die Probleme, die dazu führen, das alles entgleist. Wenn man die Menschen anständig verteilt, geht viel mehr.
Apropos FPÖ: Die ist jetzt wieder in der Regierung, ihre Funktionäre fielen zuletzt mit einem anti semitischen Liederbuch auf, oder indem sie rassistische Karikaturen im Netz teilen ...
Hans Menasse: Es ist klar, dass wir keine Freunde der FPÖ sind. Aber man stumpft ab. Die sind demokratisch gewählt und von Herrn Kurz in die Regierung genommen worden. Ich bin viel mehr auf ihn böse, dass er nicht mehr dagegen redet. Das verstehe ich nicht.
Zur Person: Fußballer und Zeitzeuge
Hans Menasse kommt am 5. März 1930 als jüngstes von drei Kindern in Wien zur Welt. Der Vater ist jüdischer Herkunft, die Mutter eine Katholikin. Ab April 1938 darf Hans nicht mehr zur Schule, seine Eltern ahnen, dass noch Schlimmeres kommt. Sie schicken ihn und seinen älteren Bruder mit dem „Kindertransport“, eine humanitäre Rettungsaktion bei der mehr als 10.000 jüdische Kinder- und Jugendliche ausreisen dürfen, nach England, wo er neun Jahre verbringt. Wenn er heute davon erzählt, spricht er stellenweise mit leichten britischen Akzent. Seine erste Adresse „Thirtynine Christchurch Avenue“, ein Heim, kann er heute noch auswendig. Nach der Evakuierung Londons kommt Hans Menasse zu Pflegeeltern nach Dunstable, Südengland. Dort spielt er im Nachwuchs von Luton Town, bekommt eine Einladung für ein Training beim Fußballklub Arsenal.
1947 kehrt der damals 17-jährige Menasse zurück nach Wien, wo er seine Fußballkarriere fortsetzt (Vienna, Austria Wien) und es bis in die Nationalelf schafft. Seit einigen Jahren spricht Hans Menasse als Zeitzeuge über das Erlebte, zuletzt in der österreichischen Botschaft in Berlin. Dort läuft noch bis zum 11. April eine Fotoausstellung zu den Kindertransporten („Züge ins Leben“).