"Führungsversagen Putins": Expertenstimmen zum Marsch der Wagner-Gruppe
Mehrere internationale Experten haben nach dem nach 24 Stunden abgebrochenen Marsch der russischen Söldnertruppe Wagner auf Moskau unter Führung von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin versucht, die Vorgänge zu analysieren:
"Prigoschins Hauptproblem war, dass er die Abdankung des 'Königs' (gemeint ist Russlands Präsident Wladimir Putin, Anm.) zu fordern schien, aber ohne Unterstützung der Massen. In Rostow und anderswo konnte er sich auf ein gewisses Maß an öffentlicher Sympathie oder zumindest Akzeptanz berufen. Aber was die militärische Unterstützung betrifft, die ihm Legitimität und eine Aura der Stärke gegeben hätte, sah er sich seltsamerweise dem gleichen Problem gegenüber wie Putin. Die russische Armee war weit weg an der Front, in Konfrontation mit den Ukrainern, und konnte so nicht an einer politischen Auseinandersetzung in der Heimat teilnehmen. (...) Das bestätigt die fundamentale strategische Regel, dass es keinen Sinn hat, einen kühnen Schritt zu setzen, um seine Gegner zu überrumpeln, wenn man keine Ahnung hat, was man als Nächstes tun soll."
(Lawrence Freedman, ehemaliger Professor für Militärstudien, King's College, London, in seinem Blog Comment is Freed)
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"Die Krise, die gestern so eskaliert ist, ist nichts anderes als Führungsversagen Putins, der nicht rechtzeitig gemerkt hat, zu welcher Gefahr Prigoschin für ihn selbst geworden ist. Putin ist deutlich angeschlagen, angezählt ist er aber nicht. In der Fernsehansprache am Samstag hat er von Verrat und Dolchstoß gesprochen und davon, dass die Verräter hart bestraft werden. Davon ist heute keine Rede mehr. Das ist alles eine Demütigung für Putin, weil er dadurch in Teilen der Bevölkerung den Nimbus des allmächtigen Führers verloren hat. Es ist die schwerste Krise für Putin seit seinem Machtantritt im Mai 2000."
(Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler, Universität Innsbruck, im Standard)
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"Das war kein traditioneller Staatsstreich, aber mit Putins Video und den Erklärungen des FSB (russischer Inlandsgeheimdienst, Anm.) wurde es zu einer Herausforderung, die das Ausmaß der Brüchigkeit des Regimes offenbarte. Es war kein gutes Zeichen für die Fähigkeit oder die Kompetenz des russischen Staates, auf eine solche Herausforderung zu reagieren. (...)
Putins Untätigkeit und die Langsamkeit der russischen Reaktion sind typisch geworden. Ich habe ihn oft als Meister des Prokrastinierens bezeichnet. Das Problem mit Wagner wuchs (...), Putin wurde wahrscheinlich gewarnt und tat nichts. (...)
Meine Schlussfolgerung ist, dass Prigoschin letztendlich verloren hat. Auch Wagner wird verlieren. Aber auch Putin hat verloren, und das Regime wurde verwundet."
(Michael Kofman, Direktor des Programm für Russlandstudien, US-Militärdenkfabrik CNA, auf Twitter)
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"Ich bleibe bei meiner früheren Behauptung, dass Putin und der Staat einen schweren Schlag erlitten haben - der erhebliche Auswirkungen auf das Regime haben wird. Ich möchte jedoch betonen, dass das Image für Putin immer eine zweitrangige Rolle gespielt hat. Abgesehen von der Optik hat Putin das Wagner- und Prigoschin-Problem objektiv gelöst, indem er den ersteren auflöste und den letzteren ausschloss. Die Situation wäre weitaus schlimmer gewesen, wenn sie in einem blutigen Chaos am Stadtrand von Moskau geendet hätte.
Und nein, Putin braucht weder Wagner, noch Prigoschin. Er kann mit seinen eigenen Kräften auskommen. Davon ist er jetzt sicher überzeugt."
(Tatjana Stanowaja, Leiterin der in Frankreich ansässigen Russland-Denkfabrik R.Politik, auf Twitter)
"Wir haben noch nicht das letzte Wort über Prigoschin gehört, aber wir haben vielleicht begonnen, über die letzten Tage von Wladimir Putin zu hören."
(Lord Richard Dannatt, ehemaliger britischer Generalstabschef, in der BBC)
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"(Prigoschin) hat öffentlich für die ganze Welt und hoffentlich auch für die russische Öffentlichkeit verkündet, dass die (...) russischen Kriegsziele frei erfunden sind. (...) Im Grunde hat er dem Kaiser die Kleider ausgezogen. (...) Da ist gewaltig was gebröckelt, und es ist deutlich geworden, dass die Machtstruktur, auf die sich die Macht Putins seit zwei Jahrzehnten stützt, keineswegs so stabil ist, wie viele im Westen unterstellt haben."
(Wolfgang Ischinger, früherer Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, im NDR)
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