Politik/Ausland

Flüchtlingszahlen sinken, aber "die Menschen werden verkauft"

Knapp 100.000 Flüchtlinge und Migranten sind heuer über das Mittelmeer nach Europa gekommen - so wenige wie seit Jahren nicht mehr. Doch an den Gründen, warum Menschen überhaupt in die seeuntauglichen Boote steigen, hat sich nichts geändert. Kaum jemand kennt die Migrations-Situation im Mittelmeer besser als Vincent Cochetel. Der UNHCR-Sondergesandte für die Zentral- und Westmittelmeerroute im KURIER-Interview.


KURIER: Heuer sind um 40 Prozent weniger Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Wie beurteilen Sie die Situation?
Vincent Cochetel: Die sinkenden Zahlen in Europa ändern nichts an der Lage in Libyen. Wenn die Menschen nicht mehr nach Italien können, pressen die Menschenhändler den Gewinn aus ihrem „Investment“ woanders heraus. Das Gefangenensystem ist Teil des Geschäftsmodells  in Libyen. Das heißt, die Menschen werden verkauft an Bauunternehmen oder an die Landwirtschaft, Frauen werden in die Prostitution gezwungen. Das ist eine unerwünschte Folge davon, dass weniger Menschen in die Boote steigen können. So lange es keinen politischen Fortschritt in Libyen gibt, kann man in Libyen auf der humanitären Seite keine Wunder erwarten.
 
Wie viele Schiffe von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) sind derzeit im Mittelmeer unterwegs, um Menschen aus Seenot zu retten?
Eines. Das bedeutet, man hat weniger Rettungs-und Suchkapazitäten, denn manche NGOS hatte auch Flugzeuge, um Schiffbrüchige zu suchen.  Man hat auch weniger Zeugen, die sehen, was die libysche Küstenwache an  den sechs Anlandeplätzen macht.  Man sieht die Zurückgebrachten ein paar Stunden lang an der Küste, an den Sammelpunkten. Dort erhalten sie Essen und Decken, aber dann kommen Busse und bringen sie in Gefangenenlager, die von anderen Behörden verwaltet werden. Skrupellose Unternehmer machen mit diesen Leuten  Geld. Wir versuchen, die Menschen, die am verwundbarsten sind, aus diesen Gefangenenlagern  herauszuholen und sie nach Niger zu evakuieren. Aber wir als UNHCR dürfen nur drei Lager pro Woche besuchen, wir können nie alle besichtigen.

 

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Beim EU-Gipfel wird heute zum x-ten Mal über die  Migration beraten. Was muss die europäische Politik tun?
Als erstes muss man sagen, dass die Zahlen zu managen sind – leichter als in den vergangenen Jahren. Und das sollte die Politiker dazu ermutigen, an der Wirksamkeit und Qualität der Verfahren zu arbeiten.  Die Asylverfahren sind noch immer zu kompliziert und zu lange.  Man braucht kein vier Jahre, um festzustellen, ob jemand ein Flüchtling ist oder nicht.  Diejenigen, die Schutz brauchen, sollen ihn erhalten. Diejenigen, die keine Flüchtlinge sind, müssen wieder gehen. Es gibt Lösungen. Das Problem ist nur, dass das politische Klima so giftig ist. Und wir sagen auch seit langem: Es muss auf europäischer Ebene eine gemeinsame Verantwortung geben. Geografie allein kann nicht der einzige Faktor sein, der entscheidet, wo ein Flüchtling in Europa bleiben kann.

Sie lehnen Anlandeplattformen in den nordafrikanischen Ländern ab. Warum?
Wir brauchen einen Mechanismus, mit Flüchtlingen und Migranten umzugehen, keine Plattform. Ebenso wenig brauchen wir Camps  oder riesige Registrierungszentren. Die afrikanischen Staaten haben individuelle Systeme, mit der Migration umzugehen. Wir sollten also  mit dem arbeiten, was wir haben, es aber verbessern und ausbauen.  Aber ihnen ein einziges Modell überzustülpen wird nicht funktionieren. Wir sollten nicht träumen von einem riesigen regionalen Mechanismus, der auf beiden Seite des Mittelmeeres funktionieren wird.   

Wie soll die Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika aussehen?
Die europäischen Staaten müssen mehr mit den Herkunftsländern kooperieren. Das passiert nicht wirklich. Die Versuche, unsere Probleme in andere Länder auszulagern, sind kurzsichtig. Glauben wir wirklich, dass diese Länder mitspielen? Die Treiber für Entwurzelung, seien sie wirtschaftliche Entwurzelung, Konflikte und Kriege, diese  Treiber sind noch da, wie können sie nicht ignorieren. Die größte erzwungenen Wanderungen finden innerhalb Afrikas statt. Aber wir müssen diesen Ländern helfen, die Situation besser zu managen.  Und wir müssen über legale Wege nach Europa reden. Die Staaten in Afrika haben das Gefühl, es geht den Europäern nur um Rückkehrer und um deren Grenzsicherung. Wir können nicht die Länder auf deren Seite des Mittelmeeres dazu auffordern das zu tun, was wir selber nicht tun wollen.  

Es gibt doch schon UNO-Programme in den afrikanischen Ländern, um die Migration besser zu managen?
Die Internationale Migrationsagentur (IOM) ist vor Ort, sie unterstützt  Migranten dabei, wieder in ihre Heimatländer zu bringen. Und wir vom UN-Flüchtlingshilfswerk sind da – aber: Die versprochenen Mittel treffen nicht ausreichend ein: In Ägypten haben wir nur 42 Prozent, in Tunesien haben nur 28 Prozent der Mittel erhalten, und es wird immer weniger. Wir bekommen nicht die nötige Unterstützung, um die Lage zu stabilisieren. Hier liegt die wahre Kluft: Zwischen dem, was viele Staatschefs sagen und der Realität. 

Dabei wird die Sprache gegen Flüchtlinge und auch deren Helfer immer härter..
Es findet eine Ent-Humanisierung statt und die Menschen haben sehr vereinfachte Meinungen, wie die Probleme gelöst werden können.  Die Tendenz, alle unsere Probleme Fremden anzulasten, ist nicht neu. Manches, was wir heute hören, war auch schon in den 30er-Jahren zu vernehmen. Seien wir vernünftig und managen die Probleme.  Manche Bereiche der Migration sind problematisch, die Integration etwa. Und schauen wir auf das Problem der zurückgewiesene Asylsuchenden, das in Europa nicht gemanagt wird. Das unterminiert das Asylsystem und besetzt den Platz für jene Leute, die Schutz brauchen. Wir dürfen keine Tabuthemen aussparen, aber es gibt keine schnellen Lösungen.