Politik/Ausland

Einmarsch 1968: Ein Gedenken mit Gänsehaut

Schande! Schande! Geheimdienstagent!“, skandierten die Massen vor dem Tschechischen Rundfunk in Prag, als Premier Andrej Babiš eine Gedenkrede zum Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings halten wollte. Gemeint war der nicht widerlegte Verdacht, dass der Regierungschef während des Kommunismus mit der Geheimpolizei zusammenarbeitete. Die Gedenkveranstaltung wurde zum politischen Protest.

Schließlich, nach mehreren Versuchen, sagte Babiš nur wenige Sätze. „Freiheit und Demokratie ist, dass jemand das Recht hat, eine andere Meinung zu vertreten. Heute kann jeder sagen und schreiben, was er will.“ Seine Worte gingen im Pfeifkonzert unter, Babis flüchtete sich verärgert ins Rundfunkgebäude.

Vor dem Radiogebäude auf den Prager Weinbergen fand in der Nacht zum 21. August 1968 die erste Konfrontation zwischen den russischen Soldaten und den Verteidigern des Rundfunks statt. Die Prager blockierten mit Lastwägen die Zufahrt und bewarfen die Soldaten mit Steinen – die schossen erst in die Luft, dann in die Fenster, schließlich in die Menge. 17 Menschen wurden getötet.

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Radio und Gänsehaut

Zu ihrem Gedenken kamen 50 Jahre später etwa 500 Menschen, war doch der Dienstag sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei ein normaler Arbeitstag. Von Montag 22 Uhr bis Dienstag zehn Uhr sendete der Rundfunk Minute für Minute die Original-Radioaufnahmen von damals. So auch kurz nach Mitternacht die Erklärung der KP-Führung über den unerlaubten Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen sowie die Bitte, keinen Widerstand zu leisten.

Redakteure, die nahe des Senders wohnten, kamen damals und wurden Zeugen, wie Prager Barrikaden vor dem Gebäude aufbauten – und sie berichteten unaufhörlich über die Geschehnisse dieser Nacht, die alle Hoffnungen auf ein freieres, besseres Leben zunichte machen sollten. Bis in die Vormittagsstunden konnten die Journalisten Widerstand leisten und Reportagen von der Straße senden – etwa wie Prager mit den russischen Soldaten in Kontakt treten wollten oder die Hymne sangen, im Hintergrund hörte man bereits Schüsse.

Schließlich eroberten die Soldaten das Radiogebäude und zwangen die Journalisten mit gezogenen Kalaschnikows zum Schweigen. In den letzten Sekunden appellierten die Tschechen noch an den ORF, bitte Nachrichten auf Tschechisch zu senden. Dann zerstörten die Soldaten die technischen Anlagen. Funkstille. Die Erinnerung macht heute noch Gänsehaut.

In Bratislava gab es damals die ersten Opfer vor der Universität. Dort versammelten sich am Dienstag etwa hundert Menschen, die der drei Toten vor der Alma Mater gedachten. Sie steht am Donauufer, wo russische Panzer über die Brücke in die Stadt rollten. Als die Passanten sie aufhalten wollten, verloren die Soldaten die Nerven und schossen um sich.

Dubček unbeachtet

Die Redner an diesem Dienstagvormittag gedachten nicht nur der Toten, sondern auch der Opfer der darauffolgenden „Normalisierung“, als Meinungs- und Reisefreiheit wieder entzogen wurden. Menschen, die sich gegen das Regime stellten, verloren ihre Jobs. Viele Emigranten verließen das Land, Familien wurden über Jahrzehnte zerrissen. Am Rand der Gedenkveranstaltung mit unglaublich viel Prominenz stand unter den Zuschauern, unbeachtet, Pavol Dubček, Sohn von Alexander Dubček, dem legendären KP-Chef und der Ikone des Prager Frühlings.

Parlamentspräsident, Vizepremier, Minister, slowakische und EU-Abgeordnete, Vertreter von einigen NGOs und des diplomatischen Corps: Sie alle legten Kränze unter den Gedenktafeln nieder. Es wirkte aber mehr wie ein Pflichtübung – im Gegensatz zum Auftreten junger Slowaken, die selbst vor einigen Monaten ihre Protestbewegung („Für eine anständige Slowakei“) ins Leben gerufen haben: Nach dem bis heute ungeklärten Mord an einem slowakischen Aufdeckerjournalisten gingen sie solange auf die Straße, bis Regierungschef Robert Fico und auch Innenminister Robert Kaliňák abtraten.

Eine gemeinsame Feier der slowakischen Führung gab es nicht. Premier Peter Pellegrini legte nur Blumen am Grab von Alexander Dubček nieder, ohne etwas zu sagen. Präsident Andrej Kiska nahm an keiner Feier teil, er hielt lediglich eine Ansprache im slowakischen Fernsehen. Da sich Tschechiens Präsident Miloš Zeman geweigert hatte, eine Erklärung abzugeben, sandte das tschechische TV die Kiska-Rede zeitgleich.

Den ganzen Tag gab es fast überall in Tschechien und der Slowakei Veranstaltungen, Ausstellungen, Filmvorführungen zum Jahrestag. In einem nordböhmischen Dorf bauten die Bewohner aus Kartons Panzer nach. In Prag ließ man den Tag mit einem Mega-Konzert am Wenzelsplatz ausklingen. Am Programm standen Protestlieder und Texte, die in den ersten Tagen der Okkupation entstanden. Lieder, die lange Jahre verboten waren und die heute trotzdem noch fast jeder Tscheche und Slowake mitsingen kann.