Politik/Ausland

Die Rückkehr des starken Staates: Chancen und Risken

Nicht mehr reisen, nicht mehr ins Restaurant, ja nicht einmal mehr gemeinsam Fußball spielen. Der Staat greift derzeit derart fundamental ins Leben ein wie nie zuvor in Friedenszeiten. Grundrechte wie Bewegungs-, Versammlungs- oder Religionsfreiheit gelten plötzlich nicht mehr oder sind massiv eingeschränkt. Und die allermeisten Bürger und Bürgerinnen haben (noch) absolutes Verständnis dafür.

"Wir erleben die Rückkehr des starken und selbstbewussten Staates", sagt die deutsche Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele. Und hat damit völlig recht. Noch bis vor zwei Monaten wurde viel diskutiert und lamentiert, dass sich die Regierungen mit dem Verwalten nationalstaatlichen Kleinkrams begnügen müssten und immer mehr Macht an internationale Großkonzerne wie Google oder Amazon verlören.

"Koste es, was es wolle!"

Jetzt stehen Staats- und Regierungschefs im Fokus und stemmen sich mit außergewöhnlichen Schritten gegen den Virus-Tsunami. Plötzlich ist es möglich, Milliarden, ja wahrscheinlich Billionen flüssigzumachen, um die Wirtschaft irgendwie durch die Krise zu bringen - auch in Deutschland und Österreich, wo Sparen bisher das oberste Gebot war. Selbst Teilverstaatlichungen sind unter der konservativen Kanzlerin Angela Merkel kein Tabu mehr. Und ihr österreichischer Kollege Sebastian Kurz hatte die Devise ausgegeben: "Koste es, was es wolle!"

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"Stunde der Amtsträger"

Das schafft Vertrauen in der Bevölkerung. Und es stärkt auch die Position der Regierenden - wenn es ihnen gelingt, die Maßnahmen transparent, nachvollziehbar und ruhig zu kommunizieren. Oft schaffen sie das: KKA (Kanzler Kurz, Vizekanzler Kogler und Gesundheitsminister Anschober) exerzieren es perfekt vor. In Italien trägt Premier Giuseppe Conte mit seiner bedachten und charismatischen Art die Landsleute durch die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Und in Deutschland erlebt die zuvor bereits abgeschriebene Regierungschefin ein unerwartetes Comeback. "Es ist die Stunde der Amtsträger", formuliert Römmele. Zugleich geraten Populisten überall ins Hintertreffen. So sinken die Umfragewerte des italienischen Rechtsaußen Matteo Salvini.

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Manche erliegen Machtrausch

Allerdings erliegen einige Verantwortungsträger der Versuchung, die Krise für eigene Machträusche zu missbrauchen. Ungarns Premier Viktor Orban ist so ein Fall. Er will künftig am Parlament vorbei per Dekreten regieren - bis die Ausnahmesituation vorbei ist. Und das Ende bestimmt er. Auch in Israel, das Infizierte per Handy-Ortung verfolgt, klammert sich Übergangs-Regierungschef Benjamin Netanjahu an die Macht und will das Land drei Jahre lang mit einem Notstandskabinett leiten.

Sind die Demokratien also gefährdet? Im Wesentlichen nein, sagt der Soziologe Armin Nassehi von der Ludwig-Maximiliansuniversität in München. Erst wenn die Maßnahmen auf Dauer bestünden, würde es zu einem Problem kommen.

Nationalistisch

Ein weitere negativer Aspekt der Renaissance der staatlichen Macht ist, dass sie primär nationalstaatlich interpretiert wird. Grenzbalken fallen, Hungary oder Poland first, lautet die Devise. Und wenn Tschechien Gesichtsmasken blockiert, die für das global derzeit am schlimmsten von der Pandemie betroffene Italien bestimmt sind, ist dies nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch diametral dem Geist europäischer Solidarität widerlaufend.

EU als Verliererin

Tatsächlich ist die Europäische Union momentan die große Verliererin, wie auch der in Innsbruck und Brüssel lebende Integrationsforscher Andreas Maurer konstatiert. Insofern wäre die Rückkehr (oder besser Etablierung) einer starken EU wünschenswert. Im Kampf gegen das Virus und die dramatischen wirtschaftlichen Folgen würde man klar an Schlagkraft gewinnen.

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