"Es geht um unser Image": Was man über das Golan-Massaker wissen muss
Von Peter Temel
Der Tod von neun Syrern auf den Golanhöhen im Jahr 2012 unter Beobachtung österreichischer UNO-Soldaten beschäftigt seit Freitag die Öffentlichkeit. Grund ist ein Video von dem Vorfall, das Ende der Vorwoche veröffentlicht wurde.
Was damals in der kargen Felslandschaft tatsächlich geschah und ob die österreichischen Blauhelme das Massaker verhindern hätten können oder müssen, ist nun Gegenstand einer Untersuchungskommission, die bereits ihre Arbeit aufgenommen hat. "Es geht um unser Image, es geht um unsere Soldaten", sagt Michael Bauer, der Sprecher des Verteidigungsministeriums, heute im Ö1-"Mittagsjournal". Diese Woche sollen die ersten Befragungen erfolgen, bis Ende Mai sollen die Ergebnisse vorliegen.
Was ist aber schon bekannt? Der KURIER hat die bisher berichteten Fakten und Standpunkte zusammengetragen:
Was ist passiert?
Neun syrische Geheimpolizisten fuhren am 29. September 2012 in ihrem weißen Pick-Up durch die entmilitarisierte Zone auf den Golanhöhen und gerieten in einen Hinterhalt libanesischer Schmuggler, keiner hat überlebt. Bevor die Polizisten in den Hinterhalt gerieten, mussten sie an dem österreichischen UN-Stützpunkt „Hermon South“ vorbeifahren. Die dort stationierten Soldaten winkten sie - anscheinend ohne Vorwarnung - durch. Diesen Schluss legen zumindest die vom Falter veröffentlichten Videoaufnahmen nahe, die die Soldaten selbst angefertigt haben. Für Entsetzen sorgen auch die darin dokumentierten Kommentare der Soldaten. „Winkt's nur, solang ihr noch könnt“, sagt einer, bevor die Geheimpolizisten zum Checkpoint kommen. Ein UNO-Sprecher nannte die Videosequenzen "verstörend".
UN-Position "Hermon South" (Bilder und Karte) an der Grenze zwischen Libanon und Syrien. In diesem Gebiet geschah die blutige Attacke:
Wann hat die UNO von dem Vorfall erfahren?
Dem UNO-Sicherheitsrat ist die Sache seit Ende November 2012 bekannt. Der damalige UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon hat den Vorfall in seinem halbjährlichen Bericht zu den Aktivitäten der Golan-Mission UNDOF (United Disengagement Observer Force) mit einem eigenen Punkt erwähnt: "Am 29. September sah UNDOF, wie neun syrische Sicherheitskräfte durch 13 bewaffnete Mitglieder der Opposition aus einem Hinterhalt in der Pufferzone getötet wurden, in der Nähe der UNO-Position Hermon South im Gebiet Mount Hermon."
Der damalige Verteidigungsminister Norbert (SPÖ) gab an, während seiner Amtszeit nichts über den Vorfall gewusst zu haben. "Ich bin in Kenntnis gesetzt worden vom ORF-Teletext", sagte Darabos nach Bekanntwerden der Videos am Freitagnachmittag.
Wie wurde der Vorfall intern gemeldet?
Falter-Chefredakteur Florian Klenk veröffentlichte via Twitter und Facebook eine interne Meldung der UNDOF-Kräfte zu dem Vorfall: Demnach hätten sich „bewaffnete Zivilpersonen (vermutlich Schmuggler)“ zuvor bei der UN-Position "Hermon Base" über einen „getöteten Esel“ beschwert und angekündigt, „Vergeltung zu üben“. In dieser Meldung ist auch davon die Rede, dass die neun Syrer in dieses Gebiet hineingefahren wären, um die Stellungen der Schmuggler anzugreifen. Dabei sei auch ein Schmuggler getötet worden. Laut dieser Darstellung hätte den Geheimpolizisten der Hinterhalt bewusst gewesen sein müssen. Die bisher bekannten Videobilder stehen allerdings im Widerspruch dazu. Der "Casus Belli", ein toter Esel, wurde laut der Meldung unweit von Position "Hermon South" gefunden.
Warum kam es zu der brutalen Attacke?
Die Salzburger Nachrichten (SN) sprachen mit einem ehemaligen UNO-Soldaten H., der angibt, die betroffenen Kameraden auf dem Video erkannt zu haben. Er glaubt nicht, dass der Angriff von einfachen Schmugglern durchgeführt worden ist. H. spricht von einer geplanten Aktion, „einem präzise durchgeführten Attentat auf ein führendes Mitglied der syrischen Geheimpolizei, das in diesem Jeep saß." Demnach sei den Angreifern auch bekannt gewesen, wann die Geheimpolizisten in die Pufferzone einfahren würden und dass die Blauhelme nicht eingreifen dürfen. Eine präzisere Einsicht in die Geschehnisse ist aber erst von den Ergebnissen der Untersuchungskommission zu erwarten.
Welche Aufgabe hatten die UNO-Soldaten in der Pufferzone?
Der Auftrag dieser UN-Mission war es, den Waffenstillstand zwischen Israel und Syrien, der 1974 geschlossen wurde, zu überwachen. Österreich war für 39 Jahre an dieser UNDOF-Mission beteiligt und zog Juni/Juli 2013 von den Golanhöhen ab, nachdem syrische Rebellen einen Grenzübergang in der entmilitarisierten Zone eingenommen hatten. Der übereilte Abzug hatte damals für Unmut vonseiten der UNO gesorgt.
Wie lautete das UNO-Mandat?
"Die UNDOF wird sich nicht in die internen Angelegenheiten Syriens einmischen“, lautet der erste Satz auf einer Handkarte, die UN-Soldaten mit sich zu führen hatten. "Basierend auf dem derzeitigen Mandat müssen UNDOF-Peacekeeper neutral bleiben", lautet der letzte Satz auf der Karte.
Viele Jahre lang gab es keine militärischen Kräfte in der Pufferzone. Aber als 2011 der syrische Bürgerkrieg ausbrach, kam es auch in der Truppentrennungszone zwischen Syrien und Israel zu Kämpfen zwischen der syrischen Armee und Rebellen – die von den Schmugglern unterstützt wurden. Das Mandat wurde damals jedoch nicht geändert. Die Soldaten hätten nicht mehr die Möglichkeit gehabt, das Mandat einzuhalten, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Michael Bauer, am Montag im Ö1-"Mittagsjournal“. Österreich habe daher mehrmals bei der UNO gebeten, "bitte ändert das Mandat". Die Vereinten Nationen habe dieses Ansinnen aber abgelehnt und in letzter Konsequenz sei dann vonseiten Österreichs entschieden worden, die Mission zu beenden.
Wie lautete die Befehlskette an dem Wachposten? Wer war verantwortlich, dass die Syrer durchgewunken wurden?
Im Interview mit dem KURIER erklärt ein Ex-UNO-Soldat, der anonym bleiben möchte: „Zuerst meldet der Wachposten die „auffälligen Gruppierungen“ an eine Kommandozentrale, welche wiederum den Kompaniekommandanten verständigt. Dieser (gemeinsam mit anderen hochrangigen Offizieren) entscheidet dann natürlich im Sinne des UNDOF-Mandats, was weiterführend gemacht wird.“
Der folgenschwere Vorfall im September 2012 hat sich unter dem Kommando des indischen Generals Iqbal Singh Singha ereignet, der zwei Jahre später wegen eines Konflikts mit philippinischen UNO-Soldaten ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist. Ob Singha vor dem Zwischenfall mit den neun Toten informiert worden ist, ist derzeit nicht bekannt.
Was geschah an dem Wachposten? Gab es doch eine Art Warnung?
Den UNO-Soldaten waren sowohl die Schmuggler als auch die syrischen Geheimpolizisten bekannt. Auf dem Video ist zu beobachten, dass die Soldaten zu den Syrern gehen und kurz vor dem tödlichen Feuergefecht noch ein Gespräch führen. "Normal musst das de Hund sagen", sagt ein Österreicher zu einem Kameraden im Hintergrund. Gemeint ist, dass die Syrer vor dem Hinterhalt gewarnt hätten werden müssen. "Hab ich ihnen eh gesagt", sagt ein anderer. Ob damit die Syrer oder die österreichischen Wachposten gemeint waren, ist nicht bekannt.
Ein Vizeleutnant, der mit den syrischen Geheimdienstlern gesprochen hat, soll laut dem von den SN befragten Soldat H. mehrmals "be careful" (seid vorsichtig) gesagt haben. Auf dem Video ist das nicht zu hören. H.: "So hat er es mir nachher erzählt, er durfte nicht mehr sagen."
Auch dieser Punkt wird frühestens mit dem Bericht der Untersuchungskommission geklärt sein können.
Handelten die Soldaten richtig?
Mehrere UNO-Soldaten haben ihre Kameraden in Medienberichten in Schutz genommen. Die Blauhelme hätten nur auf Befehl gehandelt, und der sei eindeutig gewesen. "Das haben mir die Kameraden nachher noch erzählt. Der Befehl lautete: nicht einmischen", sagte der Ex-Blauhelm H. den SN. Die Österreicher hätten sich auf den Golanhöhen neutral verhalten müssen. Ein anderer Kollege sagte im KURIER-Interview: „Viele, einschließlich mir, waren der Meinung, wenn man den neun Polizisten die Umstände verraten hätte, wäre unser Stützpunkt von den verschanzten Personen angegriffen worden.“ Die Österreicher hätten mit ihrer eingeschränkten Ausrüstung auch keine Chance gegen die schwer bewaffneten Schmuggler gehabt. "Die Österreicher hatten keine kugelsicheren Westen und jeder nur 30 Schuss Munition. Wir waren nicht dort, um zu kämpfen", kommentiert der ehemalige UNO-Soldat H. in den SN.
"Solch einen Vorfall, in dieser Art, hat es nahezu tagtäglich gegeben", sagt Ministeriumssprecher Bauer in Ö1. Jetzt sehe man, wie schwierig der Soldatenberuf sei. Ein Soldat müsste innerhalb von ein bis zwei Minuten unter schwierigsten Bedingungen, wie Schlafentzug oder Hitze, Entscheidungen treffen, die "für ihn und andere lebensentscheidend sein können". Jahre später würden diese Entscheidungen dann "am grünen Tisch" beurteilt.
Was spricht gegen die Soldaten?
Militärstratege Gerald Karner ist gänzlich anderer Meinung. “Das widerspricht jedem soldatischen Ethos. Die Österreicher hätten die Syrer natürlich warnen müssen", sagt der frühere Bundesheer-Brigadier im Standard. "Sie hätten nichts riskiert“, egal, welchen Befehl von oben es gegeben hat. „Es kann keine Vorschrift geben, die verbietet, dass man Leute nicht in den Tod schickt", sagt Karner, der auch eine Überforderung mit der Situation vor Ort in den Raum stellt.
Ähnlich sieht es der Völkerrechtsexperte Manfred Nowak, der von einer Pflicht zur Warnung ausgeht. Stattdessen hätten die Blauhelme den syrischen Polizisten, die von sich aus stehen geblieben seien und nachgefragt hätten, "wider besseres Wissen eine falsche Auskunft gegeben". Nowak verwies zudem auf Berichte, dass die UNO-Soldaten vorher Kontakt mit den Schmugglern gehabt und ihnen auch Wasser gegeben hätten. Daraus schließt der Wiener Universitätsprofessor. "Sie waren nicht neutral. Sie haben der einen Seite Rückendeckung gegeben."
Ex-UN-Soldat H. verteidigte hingegen in den SN die Entscheidung, sich mit Schmugglern, die Flüchtlinge, Waffen und Lebensmittel durch die Pufferzone brachten, zu arrangieren. "Wenn Bewaffnete vor dir stehen und Wasser wollen, dann gibst du es ihnen", erklärt H. Zu diesem Zeitpunkt sei noch nicht klar gewesen, dass ein Hinterhalt errichtet werde. "Die Österreicher haben keine Seite bevorzugt behandelt," sagt er.
Welche Konsequenzen könnte der Vorfall haben?
Den österreichischen Blauhelmen am Golan könnte ein Strafverfahren in Österreich ins Haus stehen. "Im schlimmsten Fall" könnten sie wegen Beihilfe zum Mord belangt werden, erklärte Völkerrechtler Nowak.
Auch Schadenersatzforderungen von Angehörigen der Opfer sind denkbar, wenn man folgendes Beispiel berücksichtigt: Laut einem Urteil eines Berufungsgerichts in Den Haag aus dem Vorjahr ist der niederländische Staat haftbar für den Tod von zumindest 300 Menschen beim Völkermord von Srebrenica 1995. Der Einwand der Niederlande, dass die Vereinten Nationen verantwortlich wären, wurde abgewiesen. Die UNO-Schutzzone Srebrenica in Bosnien-Herzegowina war am 11. Juli 1995 von serbischen Truppen überrannt worden. Die schlecht ausgerüstete niederländische UNO-Einheit Dutchbat, die Waffen nur zur Selbstverteidigung einsetzen durfte, hatte sie kampflos übergeben.