Politik/Ausland

Täglich grüßt die Spaltung

An die zweisprachigen Straßenschilder hat man sich längst gewöhnt, ebenso an die doppelten Untertitel im Kino und daran, dass jede Bushaltestelle sowohl einen flämischen als auch einen französischen Namen hat. Aber dass einen die sprachliche Spaltung bis in die Weihnachtsmesse verfolgt, das kommt dann doch unerwartet: Loué soit Jesus Christ steht über dem linken Flügel der Kirchentür – und rechts Geloofd zij Jesus Christus.

Die flämisch-französische Doppelbesprachung ist allgegenwärtig in Brüssel, das sichtbarste Zeichen, dass man sich in der Hauptstadt eines gespaltenen Landes befindet. Das zweisprachige Zentrum ist Zwangsverbindung zwischen den frankofonen Wallonen im Süden des Landes und den Flamen im Norden. Die Frage ist nur: Wie lange noch?

War das vielleicht schon das letzte Weihnachten, der letzte Jahreswechsel mit Brüssel als Hauptstadt Belgiens in seiner heutigen Form?

Ende Mai finden in Belgien Parlamentswahlen statt – und angesichts des Dramas vom letzten Mal weiß man, dass eine Neu-Aufteilung des Landes bis hin zur Auflösung auch diesmal wieder zur Sprache kommen wird.

540 Tage zur Regierung

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2010 wurde die flämische Nationalistenpartei Neu-Flämische Allianz (N-VA) stärkste Partei im Parlament. Erst eineinhalb Jahre später gab es endlich eine neue Regierung – ohne die N-VA und mit dem Wallonen Elio di Rupo als neuem Premierminister. Symptomatisch für Belgien: Immer wieder wird Di Rupos Eignung als Regierungschef öffentlich in Zweifel gezogen – aber nicht wegen seiner Politik oder weil sich manche an seiner offen gelebten Homosexualität stoßen würden, nein: Die Flamen (und manchmal sogar die Wallonen) bemängeln, er würde ihre Sprache nicht gut genug beherrschen.

Land ohne Hauptstadt?

Geht es nach der Neu-Flämischen Allianz, der für Mai ein deutlicher Wahlsieg vorausgesagt wird, ist Di Rupo der letzte Ministerpräsident Belgiens: Sie will den Posten schlicht abschaffen. Nach den Plänen der Separatisten soll es künftig eine „Konföderation Belgiens“ geben, in der fast alle Kompetenzen auf Flandern oder die Wallonie übertragen werden sollen. Nur noch ein paar wenige Aufgaben wie die Armee oder die Vergabe von Staatsbürgerschaften sollen auf föderaler Ebene bleiben – den Rest sollen die Regionen, die heute schon in vielen Bereichen autonom sind, selbst erledigen. Bewohner Brüssels müssten sich als Flamen oder Wallonen deklarieren.

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Die Pläne der N-VA sind vergleichsweise gemäßigt; der rechtspopulistische Vlaams Belang tritt für eine Abspaltung und ein völlig unabhängiges Flandern ein.

Flamen wollen gehen

Die Unabhängigkeitsbestrebungen kommen praktisch ausschließlich von flämischer Seite – und das hat auch handfeste wirtschaftliche Gründe: Vor ein paar Jahrzehnten noch galt das landwirtschaftliche Flandern als das Armenhaus des Landes. Mittlerweile hat die Kohle- und Stahlindustrie in Wallonien an Bedeutung verloren. Gleichzeitig hat Flandern vieles in der Automobil- und Textilbranche aufgebaut, weiß auch seinen direkten Meerzugang mit Antwerpen, einem der größten Häfen Europas, zu nutzen.

Das Bruttoinlandsprodukt der Flamen ist aktuell um rund ein Drittel höher, die Arbeitslosigkeit beträgt im Vergleich zur Wallonie weniger als die Hälfte. Jedes Jahr gibt es daher Finanztransfers in Milliardenhöhe zugunsten des ärmeren Südens. Und das bei angespannter Lage in der Staatskasse. Das belgische Defizit liegt bei rund 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung – deutlich im roten Bereich.

Heikle Historie

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Dazu kommt die historische Komponente. Lange Zeit waren die Flamen unterdrückt, war Französisch einzige offizielle Amtssprache.

Vor 50 Jahren erst wurde schließlich die Sprachgrenze offiziell quer durchs Land gezogen, mit zwei weitgehend autonomen einsprachigen Bereichen (plus einer kleinen deutschsprachigen Enklave an der Grenze zu Deutschland) und Brüssel (mit Deutsch ) sogar als dreisprachiger Mitte. Deren Zukunft ist auch eine der heiklen Fragen, wenn es um die Neuordnung bzw. Auflösung Belgiens geht: Was wird bei der Scheidung der französisch-flämischen Ehe aus dem mehrsprachigen Kind?

Brüssel ist erstens umkämpft, weil es als EU-Hauptstadt und Sitz vieler internationaler Konzerne hohe Steuereinnahmen garantiert. Zweitens ist es auch schlecht zuordenbar: umgeben von Flandern – so wie Wien von Niederösterreich –, mehrheitlich bewohnt aber von Französischsprachigen.

So scheint es wahrscheinlich, dass nicht nur die zweisprachigen Kirchentüren noch einige Zeit erhalten bleiben – wenn auch in einem anderen, auch offiziell tief(-er) gespaltenem Belgien.