Seilers Gehen: Vertrieben vom Neuen Markt
Von Christian Seiler
Normalerweise weiche ich der Kärntner Straße aus, wenn ich durch die Innenstadt gehe. Zu viel Gedränge, zu viel Ablenkung. Oft gehe ich hinüber auf den Neuen Markt, der, obwohl einer der schönsten Plätze der Innenstadt, vergleichsweise unbevölkert ist, angenehm unbevölkert.
Derzeit geht das nicht, weil auf dem Neuen Markt noch immer gebaut wird. Die Formulierung klingt seltsam harmlos im Vergleich zum chaotischen Zustand, in dem sich der Ort jahrelang befand, als hier eine Tiefgarage für 360 Autos errichtet wurde. Der wundervolle Donnerbrunnen, sonst ein Ort, wo man Blick und Wahrnehmung schulen kann, wurde abmontiert und irgendwo archiviert. Als ich die Baustelle zuletzt überquerte, wurden gewisse Löcher gerade geschlossen, aber noch immer sah ich Bretter, Container, Baumaterial, Staub, Dreck, umrahmt von den wundervollen Fassaden der malträtierten Bürgerhäuser.
Ich bleibe stehen und betrachte die langsam vernarbende Baustelle. Wie kann es sein, denke ich mir, dass uns, die wir in dieser Stadt leben und sie benutzen und genießen wollen, für ein paar Autostellplätze dieser prachtvolle Platz mehrere Jahre lang weggenommen wird? Wie werden wir Fußgänger und Flaneure dafür entschädigt, dass wir für diese Zeit von hier vertrieben werden? Bekommen wir zum Beispiel ein Stück von der Ringstraße, um dort in der Mitte der Fahrbahn spazieren zu dürfen oder Kaffee zu trinken? Wird uns auf den acht Autospuren des Schwarzenbergplatzes ein Stadtgärtchen eingerichtet, sodass wir die ursprüngliche Bedeutung des Platzes beim Lustwandeln neu erfassen können? Gibt es ein Dschungelcamp am Praterstern, um zu atmen, zu planschen und zu plaudern, während der Autoverkehr einmal ein allererstes Mal zur Kenntnis nehmen muss, dass die Bedürfnisse von Fußgängern Vorrang haben gegenüber jenen des Individualverkehrs?
Ich gehe an der Albertina vorbei, durch den Burggarten, dann die Babenberger- und die Mariahilfer Straße hinauf Richtung Westbahnhof. Was für ein Glück, denke ich mir, dass wenigstens diese Mariahilfer Straße in ein verkehrstechnisches Denkmal der Koexistenz verwandelt wurde, weiche einem Radfahrer aus, dann biege ich in die Kirchengasse ein.
An der Kreuzung Kirchengasse – Lindengasse ist die riesige U-Bahn-Baustelle eröffnet, daher ist auch die Zufahrt von der Siebensterngasse gesperrt. Die Kirchengasse ist – autofrei. Ich stehe vor einem Geschäft für Berufskleidung und denke mir: Wie breit diese Straße eigentlich ist. Keine parkenden Autos, kein Verkehr. Platz, um kreuz und quer zu gehen, stehen zu bleiben, die Fassaden zu betrachten, jemandem zuzulächeln, der aus einem Fenster im dritten Stock schaut und die Situation offenbar genauso erstaunlich findet wie ich. Ich empfinde es als belebend, an einem dafür ungewohnten Ort nicht einfach an den Rand gedrängt zu sein wie auf tausenden Gehsteigen dieser Stadt. Ich empfinde es als längst überfälligen Blick in die Zukunft einer Stadt, die für alle da ist – auch für uns, die zum Vorwärtskommen kein Gaspedal brauchen.