Wer frei von Schuld ist, werfe die erste Impfdose
Ich bin überzeugt, dass alles was innerhalb der jüdischen Kultusgemeinde passiert, am besten auch innerhalb der jüdischen Kultusgemeinde bleiben sollte. Das mag für Außenstehende, also die mit nicht-jüdischen Ohren, sehr reaktionär klingen - ist es vielleicht auch – aber so bin ich nun mal erzogen worden. Meine Eltern haben den Holocaust, mehr tot als lebendig, überlebt und fanden sich Anfang der 50er Jahre in einem Post-Nazi-Wien in einer winzigen Gemeinschaft von anderen Überlebenden wieder.
Die größte empfundene Gefahr dieser Gemeinde war wahrlich nicht „mangelhafte Integration“ – für die es heute sogar ein nicht-funktionierendes Ministerium gibt – sondern Assimilation. Daher hat man emotionale und kommunikative Schutzmauern, rund um diese kleine, fragile, jüdische Enklave gebaut. Die Mauern sind im Laufe der Jahrzehnte dünner und dünner geworden und im gegenständlichen „Fall“ schon längst und mehrfach gefallen.
Der KURIER hat es meines Wissens als erstes gebracht, aber eine Reihe von anderen Medien sind gefolgt. Jetzt hat auch das jüdische Magazin Nu die autoaggressive Selbstimpfung des Präsidenten der Israelitischen (schon seltsam wie das Wort „Jüdische“ vermieden wird) Kultusgemeinde thematisiert. Wer die Herausgeberschaft dieses Mediums kennt, ist nicht überrascht: Martin Engelberg hat um das Amt des Kultuspräsident gerittert und danach aus der Oppositionsrolle nicht mehr recht herausgekommen.
Politisches Kleingeld wechseln scheint offensichtlich auch in kleinen Communities – ich schätze, dass die jüdische Gemeinde nicht viel mehr als 7000 Menschen zählt – ein beliebtes Spielchen zu sein. Kleines Kleingeld halt.
Ich bin in der Frage, was ich von der zur Affäre hochgeschaukelten Impfaktion rund um Kultuspräsident Oskar „Ossi“ Deutsch halte, eine Personalunion aus Pro & Contra.
Natürlich hätte es nicht passieren dürfen. Vor allem, weil es so einfach gewesen wäre, das Richtige zu tun. Die im Maimonides Zentrum übrig gebliebenen Impfdosen, hätten an ältere Mitglieder der Gemeinde verimpft werden sollen. Die schnelle Benachrichtigung der in Frage kommenden Personen wäre keine logistische Herkulesarbeit gewesen. Ob der Präsident in diese Gruppe fällt?
Diese Antwort hätte er unter keinen Umständen selbst geben dürfen. Die Optik – und leider mehr, als nur die Optik – ist und bleibt schief. Hat er sich selbst beschädigt? Hat er das Amt des Kultuspräsidenten beschädigt? Hat er die Wiener jüdische Gemeinde beschädigt? Die erste Frage ist leicht zu beantworten: „Ja.“ Die zweite Frage ist ebenfalls mit „ja“ zu beantworten, aber dieses „ja“ bedarf einer Erläuterung. Die politische Bedeutung des Amts eines Kultuspräsidenten geht – zumindest ist das in allen europäischen Metropolen der Fall – weit über die jeweilige Größe der jüdischen Gemeinden hinaus.
Charlotte Knobloch, zum Beispiel, die Präsidentin der Münchner Gemeinde ist eine enge Vertraute von Angela Merkel. Ob das dem Amtsverständnis von Ossi Deutsch entspricht, kann ich nicht sagen und ob er diesem Amtsverständnis entspricht, will ich nicht sagen.
Die dritte Frage ist eindeutig mit „nein“ zu beantworten. Die Gemeinde wird von ganz anderen Dingen beschädigt. Der Antisemitismus nimmt in erschreckendem Ausmaß zu. Und dieser Antisemitismus wird genährt vom willkürlichen Wahn der Antisemiten. Ob da jetzt noch der Impf-Antisemitismus dazu kommt ist, wie man in Wien sagt, „a scho wurscht“. Aber die eigentliche Frage ist: was hätte ich getan, wenn man mich angerufen und informiert hätte, dass eine Impfdose auf mich wartet? Ich hätte nicht viel gefragt und mich impfen lassen.
Harry Bergmann war Werber (Demner, Merlicek & Bergmann) und ist Kolumnist.