Meinung

Unsere Welt ist (noch) gemütlicher

Corona ist ein unberechenbarer Feind: Unsichtbar unter uns, auch wenn man sehnsüchtig hofft, dass er sich unter UV-Licht für immer in Luft auflöst. Aber von der Illusion, dass bald alles wieder „normal“ sein wird, sollten wir uns verabschieden. Selbst wenn wir das Virus in den Griff bekommen, hat es wohl eine Zeitwende eingeläutet, wie es der deutsche CDU-Politiker Friedrich Merz am Freitag formulierte. „Das wird nicht so schnell wieder alles gut“, warnte er. Der Mann, der gerne Angela Merkel nachfolgen würde, sieht die Krise als Weckruf für die Europäische Union, um wieder eine eigenständigere wirtschaftliche und politische Rolle in der Welt zu spielen. Die Veranstaltung fand wie so viele andere coronabedingt nur per Video statt. In der „neuen Normalität“ kommunizieren wir noch immer recht mühselig – und vielleicht übervorsichtig. Wobei da gerade Parallelwelten entstehen: Dass Tausende junge Demonstranten dicht an dicht in Wien eine Art Love-Parade gegen Hass veranstalten, ist durchaus problematisch, auch wenn das Anliegen – Anti-Rassismus – ehrenwert ist. (Auslöser für die weltweiten Demos war der Tod eines Afroamerikaners durch Polizeigewalt. Dennoch kann man die brutalen Zustände in den USA in keiner Weise mit Österreich vergleichen.) Verständlich, dass die Polizei keine Anti-(US-)Polizei-Demo mit Polizeimethoden aufzulösen versuchte. Aber wenn so etwas plan- und kritiklos zugelassen wird, fragt man sich schon, warum nicht auch ohne Einschränkung Publikum in Fußballstadien, in Kinos und auf Festspiel-Tribünen erlaubt ist. Verantwortlich für die Missachtung von Vorschriften fühlte sich niemand.

Wie heikel so eine Großveranstaltung sein kann, darauf weist die US-Zeitschrift New Yorker hin: Nach einer Parade (trotz Ärzte-Warnungen) während der Spanischen Grippe vor hundert Jahren kam es zu einem riesigen Krankheitsausbruch in Philadelphia mit Tausenden Toten. In den USA haben die berechtigten Antirassismus-Demos übrigens nicht nur friedliche Menschen, sondern auch einen gewalttätigen Mob angezogen. Eingeschlagene Schaufenster, geplünderte Läden und sicherheitshalber verbarrikadierte Luxusgeschäfte in New York City zeugen davon.

Die heimischen Demonstranten leben zum Glück in einer ganz anderen, friedlicheren, „gemütlicheren“ Welt mit freundlicheren Polizisten, deutlich mehr sozialer Absicherung und (über)flüssigen Ideen wie einem Pool am Wiener Gürtel. Die durch Corona ausgelöste Krise wird aber voraussichtlich auch bei uns die sozialen Konflikte und Verteilungskämpfe verschärfen. Deshalb sollten wir bei aller Freude über das Auslaufen der Quarantänemaßnahmen weiterhin darauf achten, das Virus nicht neuerlich fahrlässig zum Ausbruch zu bringen. Die nächsten Jahre werden hart genug.