Hermann Gmeiner: Das Leben des Kinderdorf-Gründers in neuem Licht
Von Axel Halbhuber
„Alles Große in unserer Welt geschieht nur, weil jemand mehr tut, als er muss.“Hermann Gmeiner (1919-1986)
Die Werke großer Persönlichkeiten wirken weit über ihren Tod. Und sie verändern sich, der Zeit gemäß. Aber auch die Rezeption über die Persönlichkeiten verändert sich.
Als Hermann Gmeiner, Gründer des SOS-Kinderdorfes, am 26. April 1986 starb, beweinte man einen, der „die Welt verändert hatte“. Diesen Satz liest man auch jetzt, denn Gmeiner ist heute vor hundert Jahren auf eben diese Welt gekommen.
Die Welt änderte sich
Tatsächlich starb er zu einer Zeit, in der sich die Welt änderte, nur drei Jahre später endete der Kalte Krieg. Vielleicht hatte er seinen Teil dazu beigetragen, so wie seine viel bekannteren Verbündeten, von Mutter Teresa bis Dalai Lama. Gmeiner hatte gesagt: „Nur wenn wir teilen, haben wir Frieden in der Welt. Den Frieden lernen, das ist nichts weiter als teilen lernen.“ Das klang schon ziemlich nach der neuen Zeit.
Bergbauernkind, Mutter starb früh
Am 23. Juni 1919 wurde Gmeiner in eine Vorarlberger Bauernfamilie mit insgesamt neun Kindern geboren. Als er fünf war, starb seine Mutter und die älteste Schwester Elsa kümmerte sich um alle Geschwister. Sie wurde so Vorbild für die SOS-Kinderdorf-Mutter, die Gmeiner später erfand.
Als Gymnasiast wurde er kurz vor der Matura zur Wehrmacht eingezogen, was sein späteres Leben ebenso prägte, wenn auch anders: Die Bilanz des Werks SOS-Kinderdorf ist mit Preisen gespickt, Gmeiner wurde 95 Mal für den Friedens-Nobelpreis nominiert. Dass er ihn nie bekam, liegt wohl am Wehrmachts-Einsatz in Norwegen. Er sei nur Radbote gewesen, hat er später gesagt, und doch war der Vorbehalt stets zu groß. Gmeiner gab nie zu, wie sehr ihn das belastete. Seine Vertrauten wissen aber, wie sehr er den Nobelpreis wollte.
Die Legende
Nach Krieg und Matura studierte er in Innsbruck Medizin, Wunschberuf Kinderarzt. Er sah die Kriegswaisen, er kümmerte sich nebenbei um sie und fand Mitstudenten, die das auch taten. Schlussendlich gründete er 1949 die „Societas Socialis“, das spätere SOS-Kinderdorf.
Gruppe von Unterstützern
Lange hielt das Bild des Pioniers, der mit „nur 600 Schilling in der Tasche“, wie er selbst sagte, etwas auf die Beine stellte. Seit kurzem wird die Geschichte ehrlich erzählt: Da war eine Gruppe von Pionierinnen und Unterstützern.
Da war Maria Hofer, die im Streit mit ihrer Familie einen Erbgrund um 40.000 Schilling verkaufte und so den Start finanzierte: Den Kauf eines Grundstücks in Imst. Innerhalb weniger Monate stand dort im ersten SOS-Kinderdorf der Rohbau für das erste Haus, das „Haus Frieden“.
Mit dem Kinderdorf, das rasant wuchs, wurde auch die Figur Gmeiner berühmt. Weil er sich zu einer Zeit als Marketinggenie erwies, in der das „Marketing“ noch nicht erfunden war. Als anfangs keine Subventionen kamen, bat er die Menschen um „nur einen Schilling im Monat“. Er packte die Nachkriegsbevölkerung beim Ehrgeiz.
Viele Visionen
Aber Gmeiner war nicht nur schlau, er hatte auch eine Vision, sogar sehr viele. Die wichtigste wurde zum Alleinstellungsmerkmal des Kinderdorfes: „Jedem Kind ein liebevolles Zuhause: die Mutter, die Geschwister, das Haus und das Dorf.“ Er wollte nicht wie Waisenheime Kindern die aufreibende Suche nach Adoptiveltern zumuten, sondern sie endgültig unterbringen.
Kinderdörfer auch im Ausland
Schon 1959 gab es auch Kinderdörfer in Deutschland, Frankreich und Italien, 1964 das erste in Lateinamerika, 1971 in Afrika. Als zu dieser Zeit die Bilder des Vietnamkriegs die Welt schockierten, schickte er in spektakulärer Aktion ein Schiff mit Fertighäusern nach Saigon. Und übertrug dem 26-jährigen Helmut Kutin die Aufgabe, im Krieg ein Kinderdorf zu bauen.
Mit Kutin, der selbst unter seiner Obhut in Imst aufgewachsen war, verband ihn der frühe Tod der eigenen Mutter. Der Südtiroler wurde sein Vertrauter und wahrer Freund, 1985 berief er ihn aus Asien zurück nach Innsbruck. Gmeiner war da schon schwer krank und setzte Kutin als Nachfolger ein.
Das folgende Jahr war Gmeiners dunkelstes. Er hatte Schmerzen vom Krebs, trank zu viel, und war einsam. Denn wie Kutin hatte er immer auf eigene Familie verzichtet. Sein Werk blühte, er wurde verehrt, aber unnahbar.
Die lang verschwiegenen Schwächen Gmeiners
Die schwierige Seite Gmeiners wurde aus Respekt spät beleuchtet. Autoritäre Führung, Ablehnen pädagogischer Schulungen für Kinderdorfmütter, der Wunsch nach Rekatholisierung – vieles muss man wohl im Licht der Zeit bewerten.
Kutin kannte diese Seiten, er saß an Gmeiners Sterbebett. Aber er verurteilte ihn auch später nie. Kutin: „Sein wichtigster Satz war: Nimm dich selbst nicht so wichtig.“ Kutin leitet nach Gmeiner das SOS-Kinderdorf fast 28 Jahre lang, in denen es weiter wuchs. „Bei all seinen Stärken und Schwächen war für ihn die Frage, wie Kinder aufwachsen, immer die Kardinalfrage jeder Gesellschaft.“
Verbittert
Kutin kennt auch den „Bauernsohn, der auf den Tisch haut“. Als Gmeiner im letzten Jahr merkte, dass Kutin gut ankommt, sagte er seinem Freund bitterböse: „Du kannst besser sein als ich, du kannst beliebter sein als ich, aber du wirst nie der Gründer sein“. Schlussendlich verbitterte Gmeiner an dem Denkmal, das er selber aufgebaut hatte. Am Sterbebett bat er Kutin: „Pass besonders auf die Kinder auf!“
Was von Hermann Gmeiner blieb
Was von Gmeiner blieb, war ein Werk, das nach schnellem Wachstum Strukturreformen brauchte. Und seine Visionen und Netzwerke. Sein oft zitierter Spruch: „Red’s nit, tuat’s was!“ borgte er von Indira Ghandi: „Talk less, work more.“ Wer die vielen Büchlein liest, die er verfasste, erkennt den Prediger, aber auch den vorausdenkenden Soziologen.
Visionär
So verwendete Gmeiner das Wort „Sozialwaisen“ schon 1967. Er sah die Zukunft kommen. Heute gibt es unter den über 3.000 Kindern, die SOS-Kinderdorf in Österreich betreut, kaum Waisen. Weltweit sind es aktuell 600.000 betreute Kinder in 135 Ländern, 572 Kinderdörfer und 2.000 Hilfsprogramme. Die Organisation konzentriert sich auf die Stärkung von Familien in der Nachbarschaft.
Ob Gmeiner das gut gefunden hätte, weiß keiner. Wahrscheinlich hätte ihn die Veränderung der Welt angespornt. Einmal sagte er: „Die Stunde wird kommen, wo alle Kinder dieser Welt ein besseres Zeitalter erleben werden.“
Spendenchallenge zum Geburtstag
SOS-Kinderdorf
Die von Gmeiner erdachte Organisation feierte am Gründungstag, 25. April, das 70-jährige Bestehen. Heute ist SOS-Kinderdorf in 135 Ländern aktiv, über Kontinente, Kulturen und Religionen hinweg. Es ist Österreichs international verzweigtestes Unternehmen und größtes privates Sozialwerk der Welt, geführt von Innsbruck aus.
Unterstützung
Finanziert wird es zum großen Teil von Kleinspendern und 4 Millionen Kinderdorf-Freunden. Der KURIER ist Pate im Kinderdorf Pinkafeld. Zum Geburtstag läuft derzeit die 70-tägige Spendenchallenge „Jetzt Kindheit retten“ (sos-kinderdorf.at/ kindheit-retten). Bis 5. Juli möchte man dabei 500.000 € sammeln (Stand derzeit: rd. 350.000€).