Apropos Avicii: Eine Generation auf der Couch
Von Julia Pfligl
„Er konnte nicht mehr.“ Nein, hier geht es nicht um einen Marathonläufer oder einen schwer kranken 80-Jährigen. Sondern um einen jungen Mann, beliebt, bewundert und extrem erfolgreich. Es ist der Satz, mit dem sich die Familie des verstorbenen DJs Avicii Ende der Woche an die Öffentlichkeit wandte und den viele als indirekte Bestätigung dafür auffassen, dass sich der 28-Jährige das Leben nahm. Ihn plagten Ängste, Leere und Einsamkeit, sagte Tim Bergling, so sein bürgerlicher Name, in einem seiner letzten Interviews. Beim Dauer-Hecheln nach Erfolg sei sein Glück auf der Strecke geblieben.
Mehr Therapien
Aviciis Tod macht eine ganze Generation betroffen: Es scheint paradox, dass ausgerechnet jener Mann, der den Soundtrack zu ihren Maturareisen und Clubabenden lieferte, an seiner Traurigkeit zerbrach. Der DJ ist das jüngste Beispiel in einer Reihe junger Superstars, die offen über psychische Probleme sprachen (siehe rechts). Grenzgänger wie Kurt Cobain gab es freilich schon lange, bevor Avicii seinen ersten Beat komponierte. Jetzt hingegen scheinen die ausgebrannten Mittzwanziger-Promis ein Sinnbild der Gesellschaft zu spiegeln – denn Angststörungen bei jungen Erwachsenen verbreiten sich auch jenseits von Hollywood. Der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken sei seit 2005 um 38 Prozent gestiegen, ergab der Report einer deutschen Krankenkasse. Mutiert die Generation Y zur Generation Angst?
Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie an der MedUni Wien, relativiert: In Österreich seien die Daten über Jahre im Großen und Ganzen gleich geblieben. Doch es gibt noch einen anderen Aspekt. „Was sich geändert hat, ist, dass mehr Menschen, auch junge, eine Psychotherapie in Anspruch nehmen“, sagt der Psychiater. Idole wie Selena Gomez hätten mit ihren „Outings“ geholfen, das Thema zu enttabuisieren. „Man spricht heute eher darüber, dass man eine depressive Phase hatte.“
Über den Fall Avicii möchte der Psychiater nicht spekulieren. Nur so viel: „Neben genetischen und biografischen Faktoren kann permanenter Stress die Entstehung einer Angststörung begünstigen.“ Mediziner unterscheiden zwischen gerichteten Ängsten (also etwa, vor Menschen zu sprechen) und ungerichteten Ängsten, zu denen Panikattacken zählen. Die generalisierte Angst ist ein Dauerzustand ohne konkreten Auslöser.
Soziale Medien
Die Psychotherapeutin Magdalena Ségur-Cabanac kennt solche Probleme. Auf ihrer Couch sitzen regelmäßig junge Erwachsene mit Ängsten und Panikattacken. Auch das Gefühl, nicht gut genug zu sein, sei bei Millennials weit verbreitet – und werde durch ihre Dauerpräsenz in den sozialen Medien forciert.
„Man ist ständig damit beschäftigt, sich selbst oder andere zu bewerten. Auf Insta-gram sieht jeder super aus, man denkt sich, die bzw. der hat das perfekte Leben, nur bei mir läuft alles schief.“ Das permanente Polieren der Fassade frisst Energie, die anderswo fehlt. „Das Entschleunigen, das Wahrnehmen, wie geht es mir eigentlich, bleibt auf der Strecke. Wenn man seinen Selbstwert darüber definiert, was andere denken, brennt man aus.“ Er konnte seine Gefühle nicht mehr einordnen, sagte Avicii, als er mit 26 seinen Rückzug vom Showbusiness ankündigte. Ähnliches berichtet Ségur-Cabanac von ihren Klienten. „Wenn sie Angst haben, sind sie überfordert, weil sie glauben, sie müssen leistungsfähiger sein – dann entwickeln sie Panikattacken.“ Dating-Apps à la Tinder befeuern das Gefühl, nach außen perfekt sein zu müssen. „Partnersuche ist ein großes Thema. Viele leiden unter der Austauschbarkeit.“
Wer glaubt, schwerreiche Jungstars seien vor den Tücken der neuen Medien gefeit, irrt: Kendall Jenner, 22-jähriges Topmodel mit 90 (!) Millionen Instagram-Abonnenten, sprach öffentlich über ihre Panikattacken und verordnete sich selbst eine Social-Media-Auszeit. „Man geht online und alle sagen die schlimmsten Dinge zueinander. Es ist schwierig, positiv zu bleiben.“ Lady Gaga, die schon lange an Depressionen leidet, bezeichnete das Internet als „Toilette“: „Junge lesen überall diese hasserfüllte Sprache. Wir starren nur noch in unsere Handys, anstatt einander anzusehen.“
Entscheidungen
Schuld sind freilich nicht nur Facebook und Instagram. Überforderungspotenzial lauert auch offline: So schnell war das Leben noch nie, und dann wäre da noch die viel zitierte, unendliche Auswahl an Möglichkeiten zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. „Es schafft Druck, wenn man immer wieder Entscheidungen treffen muss“, weiß Psychiater Wancata. Das Wissen, dass jede Entscheidung den Lebensweg prägt, führe dazu, dass viele abwarten und sich zurückziehen, heißt es in einem Bericht des Instituts für Jugendkulturforschung. Ein Phänomen, das auch Ségur-Cabanac kennt. „Sie haben das Gefühl, erwachsen werden zu müssen, sind aber mit einer Welt konfrontiert, die viel komplexer ist als früher. Man weiß, dass Erwachsenwerden heute bis Ende 20 dauert, weil die Anforderungen differenzierter sind.“
Ängste sind gut behandelbar, sagt die Therapeutin. Am Anfang helfen Achtsamkeitsübungen und jemand, dem man sich anvertrauen kann. Und wenn es nur dieser eine Satz ist: „Ich kann nicht mehr.“