Kultur

Tagebuch aus Wuhan: Es gibt größere Halunken als die Viren

Es gibt ein Schweigen, das lügt. Das weiß die chinesische Schriftstellerin Fang Fang (sie hat Victor Hugos „Die Elenden“ gelesen), und lügen wollte sie mit ihren 64 Jahren nicht.

Während der Kulturrevolution sei sie zur Dummheit erzogen worden.

Aber später entdeckte sie, „dass ich selbstständig denken wollte.“

Fang Fang - Foto oben -  lebt mit ihrem alten Hund in Wuhan, von wo sich die Coronaviren ausbreiteten. An 74 von 76 Tagen Ausgangssperre hat sie Tagebuch geschrieben. Nachts stellte sie ihre Texte ins Internet, viele wurden zensuriert, sie wechselte die Plattformen; und hielt die Panik fest und danach Trauer und Hilflosigkeit.

Und „unsere Funktionäre“, die einen alleinerziehenden Vater in Quarantäne steckten, dessen gehirngeschädigtes Kind allein daheim blieb und verhungerte.

Kein Problem

Dutzende Millionen Chinesen lasen das Tagebuch regelmäßig und weinten mit Fang Fang um den Arzt Li Wenliang, der am 30. Dezember 2019 vor der Krankheit gewarnt hatte. Ihm wurde Strafe wegen seiner „Unwahrheit“ angedroht, und am 10. Jänner 2020 erklärten Experten: Eine Ansteckung von Mensch zu Mensch ist ausgeschlossen!

Und die Kontrolle der Viren? Kein Problem.

Li Wenliang erlebte noch, dass man ihn offiziell um Verzeihung bat, bevor er Opfer der Pandemie wurde.

Die Schriftstellerin hatte vielen Wuhanern ein Ventil für deren Niedergeschlagenheit geöffnet.

Aber immer mehr junge Nationalisten schimpften, weil sie kein Loblied auf die Bemühungen Chinas sang. Als dann auch noch bekannt wurde, dass ausländische Verlagen interessiert sind, sogar im Feindesland Trumps, schlug ihr Hass entgegen: Verräterin!

Aber: „Wir müssen alle Pflichtvergessenen, Untätigen und Verantwortungslosen ausfindig machen und ausnahmslos zur Rechenschaft ziehen, egal welche Position sie innehaben. Das ist die einzige Möglichkeit, vor den Menschen, die in Leichensäcken abtransportiert wurden, bestehen zu können.“

Wuhan Diary“ erschien zuerst auf Deutsch.

Im Vorwort erklärt Fang Fang, sie werde das gesamte Honorar fürs Buch spenden ... und lobt die Maßnahmen der Regierung. Im Tagebuch aber fordert sie eine Entschuldigung der Regierung.

Grob behauen sind die Texte, nichts wurde „veredelt“. Es geht ums Zeugnisablegen. Sehr wohl spricht Fang Fang Lob aus. Für die Ärzte etwa.

Für die Apotheker weniger: Halbwegs brauchbare Schutzmasken kosteten nicht mehr umgerechnet 65 Cent kosten, sondern plötzlich vier Euro.

Nicht China müsse etwas lernen, sondern die Welt: „Ihr Menschen, nehmt euch nicht so wichtig, glaubt nicht, dass ihr unbesiegbar seid.

Und nennt die Viren nicht Halunken. Denn es gibt üblere Kreaturen:

Leute, die Transporte mit dringend benötigtem medizinischen Material für Spitäler stoppen und ausrauben.

Leute, die ihren Rotz lächelnd auf Türschnallen verteilen. Die im Lift absichtlich ausspucken.

 

Fang Fang:
 „Wuhan Diary“
 Übersetzt von
Michael Kahn-Ackermann.
Hoffman und Campe
352 Seiten.
25,70 Euro

KURIER-Wertung: ****