Kultur

Streaming von "La Flor": Skorpione und Spione

Ungefähr sechs Stunden sind vergangen, da ertönt plötzlich lautes Schnarchen. Es kommt von der Leinwand – oder, zutreffender formuliert – aus dem Bildschirm.

Wir befinden uns gerade inmitten des längsten Films, der je in Argentinien gedreht wurde. Er heißt „La Flor“, ist 808 Minuten lang – also rund dreizehneinhalb Stunden – und stammt von Regisseur und Drehbuchautor Mariano Llinás. Gerade hat die dritte Episode des dritten Aktes begonnen, als das Schnarchgeräusch einsetzt: Es rührt von einem dürren Privatdetektiv namens Casterman, der in einem Büro in Brüssel sitzt und von dort aus tödliche Spionageeinsätze dirigiert. Offensichtlich ist ihm gerade die Zeit etwas lang geworden und er hat sich in ein Nickerchen geflüchtet.

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Gut möglich, dass es dem einen oder anderen Zuseher von „La Flor“ zwischendrin auch so ergeht. Diese Option hat Mariano Llinás wohl eingeplant und den Schnarcher als eine Art spöttischen Meta-Kommentar zu seinem eigenen Filmmarathon eingebaut.

Seit seiner Premiere 2018 heimste „La Flor“ mehrheitlich euphorische Kritiken ein, denn Mariano Llinás hat für das serielle Erzählen im Kino neue Maßstäbe gesetzt.

Und bekanntlich leben wir im Zeitalter des seriellen Erzählens – das Angebot reicht von Netflix-Serien bis hin zum Marvel-Universum. Aber schon das frühe Kino setzte auf die Filmreihe: Bereits 1913 erschien die französische „Fantômas“-Serie, die auf den Romanfortsetzungen rund um den Meister-Verbrecher basierte und von Louis Feuillade in fünf Episoden verfilmt wurde. Ebenfalls aus Frankreich stammt Jacques Rivettes „Out 1: Noli Me Tangere“ von 1971: Inspiriert von Balzacs „La Comédie humaine“, drehte Rivette 13 Filmstunden, die er dann in acht Einzelteile zerlegte. Seine Einflüsse lassen sich auch in „La Flor“ nachweisen.

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In Wien wurde „La Flor“ vom Verleih Filmgarten ins Kino gebracht und auf der Viennale gezeigt. Wer allerdings – so wie ich – diese Gelegenheiten verpasste, kann jetzt zu Hause sein tägliches Streaming-Menü aufpeppen und sich „La Flor“ gemütlich auf der Couch ansehen.

Wobei – gemütlich ist ein dehnbarer Begriff. „La Flor“ zählt nicht gerade zu den lockeren Popcorn-Zerstreuungen, die man schnell einmal zwischendurch einwirft.

Um was geht’s?

„Hallo! Ich versuche zu erklären, um was es in diesem Film geht“, sagt der Regisseur, der auf einer Bank neben einer Straße irgendwo im argentinischen Flachland Platz genommen hat, gleich zu Beginn: „Es handelt sich um sechs Geschichten: Vier von ihnen haben einen Anfang, aber kein Ende. Das heißt: Sie hören in der Mitte auf.“

Und so vielversprechend geht es auch weiter. Llinás erklärt uns, dass der erste Film (Horror mit Mumie!) – eine Art B-Movie sei – „die Sorte Filme, die die Amerikaner früher im Schlaf gedreht haben“. Weiters folgen Bruchstücke eines Agenten-Thrillers, eines Musicals, eines Film-Remakes von Jean Renoir und eine Art Western.

Geschichten beginnen (oder auch nicht), hören mittendrin auf, schweifen ab, wechseln Genre und Tonlagen. Kurzum: Es ist gar nicht so leicht nachzuerzählen, wovon genau „La Flor“ eigentlich handelt, denn Llinás fordert konsequent unsere Sehgewohnheiten heraus und setzt Konventionen außer Kraft. Die verrätselten Erzählungen von Llinás’ Landsmann Borges werden gerne als Referenzrahmen herangezogen, britische Beobachter fühlen sich auch an das weitschweifige Werk „Tristram Shandy“ erinnert (aber da kann ich nicht mitreden).

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Eines ist fix: Rund zehn Jahre hat der Argentinier an „La Flor“ gearbeitet und dabei ein charismatisches Ensemble von vier Frauen in den Mittelpunkt gestellt. Die begnadeten Schauspielerinnen Pilar Gamboa, Elisa Carricajo, Laura Paredes und Valeria Correa kommen in (fast) allen Teilstücken vor und übernehmen wechselnde Rollen. Sagt Llinás: „Der Film ist ein Film über sie – und für sie.“

Glupschaugen

Akt eins von „La Flor“ umfasst 166 Minuten und startet mit Mumien-Horror. In einem entlegenen Institut, irgendwo in der argentinischen Pampa, wird ein archäologischer Fund abgeliefert. Es handelt sich um eine Mumie, die mit ihrem wallenden Haar und dem roten Tuch über den Augen aussieht wie eine verdörrte Piratin. Eine unvorsichtige Mitarbeiterin lüftet das Tuch – und heraus hüpfen zwei Glupschaugen und kullern lustig über den Boden. Kaum haben sich die Augenstöpsel aus dem Totenkopf gelöst, entweicht auch schon ein gefährlicher Fluch. Zuerst dreht die Katze durch, dann die Mitarbeiterin.

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Für polyglotte Zuseher gestaltet sich „La Flor“ als wahres Sprachfest. Zwar wird vorrangig Spanisch gesprochen, aber es gibt auch Intermezzi auf Italienisch, Französisch, Schwedisch – und sogar auf Deutsch. Ansonsten muss man sich an die englische Untertitelung halten. In einer furiosen Szene brüllt eine sitzengelassene Sängerin am Telefon ihr unsichtbares Gegenüber nieder. Wie sie im Affentempo ihn – und damit auch uns – verbal zur Schnecke macht, ist großartig. Allerdings muss man beim Lesen der Untertitel einen Zahn zulegen.

Selbige Sängerin tritt auch mit ihrem Ex-Liebhaber zu einem gesungenen Hass-Duett an (man sieht schon: Wir befinden uns bereits im „Musical“-Teil). Die beiden klagen ihr Beziehungsleid mit einer Wut ins Mikrofon, als würden sie glühende Kohlen tauschen. Selten hat man die Rohheit einer fatalen Liebesbeziehung so bloßgelegt vorgefunden.

In den zerdehnten, abgerissenen Handlungssträngen finden sich Spionage-Einsätze in Ostberlin in der Fritzlang-Straße(!), eine Kult-Sekte, die mit dem Gift von Skorpionen handelt, Entführungen und Undercover-Aktionen mit Margaret Thatcher.

Die Jahre ziehen ins Land, der Regisseur und seine Schauspielerinnen werden älter. Allein der Abspann von „La Flor“ dauert – 40 Minuten.

vimeo.com/ondemand/laflor

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