Richard Wilhelmer über seine Doku "Anomalie": „Bin ich noch normal?“
Von Alexandra Seibel
Ursprünglich hätte es ein Spielfilm werden sollen, sagt Richard Wilhelmer. Stattdessen ist eine Doku daraus geworden. Der geplante Spielfilm zum Thema „Wahrnehmung und Realität“ verwandelte sich in die Doku „Anomalie“ (derzeit im Kino) und beschäftigt sich mit der Frage: Was ist eigentlich normal?
„Wenn du mir komisch vorkommst, kann das an mir liegen oder an dir“, erklärt Richard Wilhelmer im KURIER-Gespräch: „Es kann aber auch an der unterschiedlichen Wahrnehmung liegen, die wir in unserer jeweiligen Situation voneinander haben.“
Klingt kompliziert und ist es auch. Sieben Jahre lang hat Wilhelmer recherchiert und sich selbst und andere befragt, was unsere Gesellschaft für vernünftig, normal oder gesund hält.
Tatsächlich rücke die Frage „Bin ich noch normal?“an immer mehr Menschen näher heran, stellt Wilhelmer fest – was nicht zuletzt an der geforderten Selbstoptimierung unserer Leistungsgesellschaft liege. Eine dementsprechend große Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Pharmaindustrie mit ihrem Glücksversprechen, unsere psychischen Leiden zu lindern.
Doch was, wenn sich jemand weigert, dieses Angebot anzunehmen? Was, wenn sich jemand selbst zum Irren erklärt – wie beispielsweise der Obdachlose, mittlerweile verstorbene Philosoph Fritz Joachim Rudert?
„Als wir uns vertieft mit Psychologie und Psychiatrie, Gesellschaft und Wahnsinn beschäftigt haben, sind wir auf die Anti-Psychiatrie-Bewegung gestoßen“, erzählt der 1983 in Judenburg geborene und mittlerweile längst in Berlin ansässige Regisseur. In der sogenannten Irren-Offensive in Berlin, einer anti-psychiatrischen Bewegungsorganisation, die psychiatrischen Patienten einen Zufluchtsort bietet, stieß er auf Fritz Joachim Rudert, den wichtigsten Protagonisten seiner Doku: „Für mich ist Fritz der emotionale Kern des Films. Wir haben ihn über drei Jahre hinweg begleitet. Er ist unglaublich charismatisch, sehr witzig und selbstironisch. Und er sieht sich nicht als Opfer. Ich habe ihn immer den Moderator des Films genannt.“
Tatsächlich führt Rudert mit wallendem Haar und geölter Zunge wortgewandt, wenngleich nicht immer ganz verständlich, durch „Anomalie“, verteilt Flugzettel, erzählt schrullige Anekdoten und kommt dabei vom Hundertsten ins Tausendste.
Schock
Klarer Fall von Schizophrenie, befindet die prominente Psychiaterin Adelheid Kastner mit fachkundigem Blick auf Rudert. Ein Urteil, das fast wie ein Schock daher kommt. Für den unbefangenen Zuseher schwankt die Wahrnehmung von Fritz zwischen „etwas schrullig“ und „ernsthaft geisteskrank“ – und darin besteht auch die Stärke von „Anomalie“: „Man nimmt ihn unterschiedlich wahr“, so der Filmemacher: „Manchmal sieht man Fritz in der Ferne als einsamen, labernden Verrückten neben Passanten sitzen, dann wieder, im Interview, erscheint er reflektiert und am Punkt.“
Richtig niederschmetternd jedoch erweisen sich die Einschätzungen eines anderen Experten, den Wilhelmer ebenfalls vor die Kamera geholt hat. Der US-Psychiater Allen Frances war einer der führenden Köpfe der vierten Ausgabe des „DSM“ („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder“) – „sozusagen der Bibel der Psychiatrie in den USA. Im DSM werden Symptome kategorisiert, die eine Krankheit ergeben.“ So galt bis Anfang der 70er Jahre laut DSM Homosexualität noch als Krankheit – „und mit einem Federstrich waren viele Tausende Menschen plötzlich wieder ,gesund’.“
Im Interview mit dem Filmemacher hat Allen Frances nichts Gutes über den Stand der Psychiatrie und den Tablettenwahn der Pharmaindustrie in Amerika zu sagen: „Die USA ist derzeit der schlechteste Ort, um ernsthaft psychisch zu erkranken.“
Ernsthaft psychisch erkrankt scheint auch der Protagonist in Wilhelmers Langfilmdebüt „Adams Ende“ von 2011 zu sein, einem Psychodrama, in dem Robert Stadlober in Blutrausch verfällt. Zuvor ist Wilhelmer, der auch mit Kunstprojekten mit Julius von Bismarck und Benjamin Maus aktiv ist, mit Science-Fiction-Kurzfilmen aufgefallen, die so aufregende Titel tragen wie „The Golden Foretaste of Heaven“ (2009) oder „Ufos above Berlin“ (2013): „Ich habe mich immer für den Einfluss der Technologien auf unsere Gesellschaft interessiert“, grinst Wilhelmer. Auch „Anomalie“, der vom Einfluss der Pharmaindustrie auf unsere Befindlichkeit erzählt, sei für ihn letztlich ein Sci-Fi-Thema.
Aber Richard Wilhelmer ist nicht umsonst passionierter Skateboardfahrer: „Als Skater sieht man die Welt mit anderen Augen. Es geht nicht darum, möglichst schnell von A nach B zu kommen, sondern darum, wie man den Weg dorthin gestaltet.“