Interview mit Claire Denis: „Im All spricht man Englisch“
Von Susanne Lintl
Sie ist ein Fixstern der jüngsten Kinogeschichte: Claire Denis (73) hat Cineasten in aller Welt mit ihrer radikal eigensinnigen Ästhetik, die von verwirrten Geschlechterbeziehungen und sozialen und kulturellen Grenzüberschreitungen geprägt ist, große Kinoerlebnisse beschert: Von „Chocolat“, ihrer autobiografisch geprägten Erzählung aus den letzten Tagen der Kolonialzeit in Französisch-Westafrika über den Teenagerfilm „US Go Home“ und dem wundersamen Geschwisterdrama „Nénette et Boni“ bis zum Vampirfilm „Trouble Every Day“ schreckt Denis vor keinem Genre zurück.
Nun wagt sie sich mit „High Life“ (Kinostart: 30. Mai) wieder auf neues Terrain: Erstmals hat sie einen Film in englischer Sprache und in Science-Fiction-Setting in einer extraterrestrischen Szenerie gedreht. „High Life“ erzählt, kurz gesagt, von großen Verbrechern, die auf einem kleinen Raumschiff ohne Rückkehroption ins All geschickt werden. Logisch, dass sich auf engstem Raum allerlei Obsessionen und extreme Emotionen entwickeln. Das vorherrschende Gefühl, das dem Zuseher entgegenschlägt, ist Klaustrophobie – gefolgt von der erotischen Aufgeladenheit der Raumschiffinsassen. Juliette Binoche verfolgt als All-Ärztin Dr. Dibs unbeirrbar den Plan der Zeugung eines Weltraumbabys. Sie zwingt die Männer zur Samenspende und befruchtet die Frauen gegen ihren Willen. Schließlich wird ein kleines Mädchen geboren, um das sich der wortkarge Monte (Robert Pattinson) kümmert. „Monte findet in dem Baby Sinn. Wenn wir uns für jemanden verantwortlich fühlen, macht das aus uns bessere Menschen“, sagt Denis beim Interview in Paris. „Wenn jemand von dir und deinem guten Willen, etwas zu tun, abhängt, ist das positiv für deine Entwicklung. Es gibt dir einen Grund, aktiv zu sein, und dein Leben nicht nutzlos verstreichen zu lassen“.
Plastikdildo
Die Atmosphäre des Films ist düster, von Verzweiflung und der Unfähigkeit zu aufrichtiger Liebe durchzogen. „Ja, aber die Verzweiflung gewinnt nicht die Oberhand. Wenn sie obsiegen würde, würden sich alle Insassen des Raumschiffs umbringen, was sie aber nicht tun. Jeder will leben. Und Monte will schon allein wegen des Babys überleben“. Für die Rolle der manischen Reproduktionsmedizinerin Dr. Dibs konnte Denis auf Juliette Binoche zählen. Denis versetzt sie in einer Szene, die wirklich großen Mut der Darstellerin braucht, auf einer Fuck Machine mit Plastikdildo in einen Geilheitsrausch. „Das konnte ich nur mit Juliette machen. Sie ist immer fröhlich, eine Naturgewalt, einfach fantastisch“. Juliette habe ungeachtet ihrer positiven Weltsicht eine sehr feministische Ausrichtung: „Sie ist auch im wirklichen Leben eine, die nichts aus der Fassung bringt und die macht, was sie will. Ein Sturkopf im besten Sinn. Als wir ‚Un beau soleil intérieur‘ gedreht haben, war es sehr kalt. Zwei Uhr früh, alle froren, alle hatten blaue Finger. Sie sagte: ‚Nein, wir halten durch, wir machen alles fertig.‘ Sie ist eisern“. Warum haben Sie den Film auf Englisch gedreht? – „Weil ich der Meinung bin, dass man im All nur Englisch oder Russisch spricht. Das ist die simple Erklärung“.
Das Retro-Raumschiff fürs Studio designt hat übrigens der isländische Künstler Olafur Eliasson, der betörende Soundtrack ist von Stuart A. Staples und seiner Band Tindersticks. Hat der Film auch eine politische Dimension? Das Abschieben unliebsamer Menschen als ultima ratio? Humanität in einer anderen Dimension? –
Claire Denis: „Kann sein. Aber daran habe ich nicht primär gedacht, als ich ‚High Life‘ gedreht habe. Ich bin sehr sensibel, was die Verhängung der Todesstrafe betrifft. Wenn man zum Tode Verurteilte in einem Gefängnis einsperrt, bis sie ihre letale Injektion bekommen oder auf den elektrischen Stuhl kommen, dann finde ich das unmenschlich. Das gesamte Haftsystem muss meiner Meinung nach überdacht werden: Denn das sind keine besseren Menschen, die aus der Haft wieder rauskommen. Ja, die Gesellschaft braucht Regeln und wer dagegen verstößt, muss bestraft werden. Aber wir haben noch kein System gefunden, dass Besserung und Reintegration bewirkt. Das müssen wir finden. Wir können die Unliebsamen nicht wie im Film ins All schießen“.
Hoffnung?
„High Life“ hat in seiner Stimmung etwas zutiefst Trauriges und dennoch Hypnotisches. Auch wenn einer nach dem anderen der Raumschiffinsassen stirbt und keine Paarbeziehungen mehr möglich sind, bleibt doch das Kind, Willow, als strahlender Hoffnungsschimmer.
Denis: „Es stellt sich die Frage, was bleibt am Ende? Gibt es noch Hoffnung? Ich sage: Ja, die gibt es immer. Was könnte eine wie Dr. Dibs denn in einer normalen Gesellschaft erwarten? Sie ist ein Outlaw und hat ihr Kind umgebracht. Sie konnte nur abhauen, ist eine tragische Figur wie Medea. Sie ist eine dieser starken Frauen, die keine Grenzen kennen in ihrem Tun wie Phädra, Medea und Antigone. Diese Frauen handeln in ihrem Schmerz noch verrückter als Männer. Die Rückkehr in ein normales Leben ist ausgeschlossen. Übrigens, was wissen wir schon übers All? 95 Prozent sind unbekannte Materie, vielleicht schwarze Löcher, vielleicht auch bewohnbare Flecken. Ich habe große Ehrfurcht vor diesem so viel Größeren als das, was wir Menschen sind“.
„High Life“:Ab 30. Mai im Kino.