Kultur

Filmfestival Venedig: Marx, Black Power und Punkrock

Heftig Gewitter über Venedig haben die spätsommerliche Hitze der letzten Tage unterbrochen. Aufgerissene Wolkendecken über dem zerwühlten Meer bieten wunderbare Ansichten auf den Himmel, Regenwasser umspült die Straßen auf dem Lido. Wenn dann bei einer dramatischen Szene im draußen auch noch der Donner grollt, ist das Spektakel perfekt.

Das Filmfestival in Venedig geht in die zweite Halbzeit. Der Ablauf der Sicherheitsmaßnahmen wird immer reibungsloser. Es ist nicht nur die Angst vor dem Coronavirus, die die Schutzmaßnahmen bestimmen, sondern auch die Furcht vor Terroranschlägen. Die Temperatur der Festivalbesucher ist relativ schnell gemessen, komplizierter wird es bei den Taschenkontrollen. Die italienische Polizei durchwühlt jede Tasche einzeln, oft mit Maschinengewehr im Anschlag. Besonder am Anfang des Festivals kam es zu längeren Wartezeiten: Während die Polizisten seelenruhig Geldbörsen öffnen ließen, um nach verdächtigen Gegenständen zu suchen, wurde die murrende Menge immer größer.

Doch diese Anfangsschwierigkeiten haben sich gelegt, und sogar an das ständige Masken tragen während der Filmvorführungen konnten sich die meisten Leute gewöhnen. Manchmal, wenn es im klimatisierten Kinosaal allzu kalt wird, fühlt es sich hinter dem Mund-Nasen-Schutz geradezu kuschelig warm an.

Alle Inhalte anzeigen

Boxkampf

Gerade im letzten Jahr musste sich Festivalchef Alberto Barbera dafür schelten lassen, nur wenig Frauen in den Wettbewerb aufgenommen zu haben. Das ist heuer erfreulicherweise anders. Acht Filme – also fast die Hälfte des Wettbewerbs – stammen von Frauen und stellen schöne, intime und zwingende Arbeiten in die Auslage. Und manchmal wird dabei auch recht eindringlich Geschichtsnachhilfe geleistet.

Alle Inhalte anzeigen

„One Night in Miami“ nennt die afroamerikanischen Schauspielerin Regina King ihr Regiedebüt, das außer Konkurrenz lief und einen speziellen Moment in der US-Geschichte zeigt. King, die einen Oscar für ihre Rolle in Barry Jenkins’ Verfilmung „If Beale Street Could Talk“ erhalten hatte und in der HBO-Serie „Watchmen“ als Superheldin heraussticht, adaptierte dafür ein gleichnamiges Theaterstück. „One Night in Miami“ zeigt die (fiktive) kontroversielle Begegnung von vier wichtigen Wegbereitern der Black-Power-Bewegung in einem Motel-Zimmer in Miami.

Der US-Boxer Cassius Clay hat in der Nacht zum 25. Februar 1964 die Weltmeisterschaft im Schwergewicht gewonnen. Gemeinsam mit seinen Freunden Malcom X, dem Soulsänger Sam Cooke und dem Profi-Footballer Jim Brown möchte er seinen Sieg feiern. Malcom X allerdings entpuppt sich als echte Spaßbremse. Nein, Alkohol hat er keinen, Chips auch nicht, nur Eiscreme. Über kurz oder lang bricht ein heftiger Streit zwischen den Männern darüber aus, wie man strategisch am besten im Kampf gegen Rassismus vorgehen soll.

Anfänglich kommt „One Night in Miami“ inszenatorisch etwas ungelenk daher, nimmt aber an Fahrt auf, sobald Regina King ihre Protagonisten im Hotelzimmer versammelt hat.

„Malcolm ist immer angefressen“, beschwert sich einer der Gäste über Malcolm X., der seine Freunde mit vagen Todesahnungen verstört. Exakt ein Jahr später wird er erschossen.

Jeder weiß, dass Cassius Clay zum Islam übertrat und sich in Mohammed Ali umbenannte. Doch die politischen und persönlichen Auseinandersetzungen, die zu dieser Entscheidung führten, hat Regina King in ein dichtes, lehrreiches Kammerspiel gepackt und für eine amerikanische Gegenwart aktualisiert.

Beziehungskampf

Alle Inhalte anzeigen

Die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli, zuletzt mit einem Porträt über die Sängerin Nico aufgefallen, hat sich ebenfalls der Vergangenheit zugewendet. In ihrem schlichten, aber intimen Bio-Pic über Eleanor Marx, die jüngste Tochter von Karl Marx, zeichnet die Regisseurin das Bild einer couragierten, letztlich aber allzu fragilen Kämpferin für Sozialismus und Frauenrechte. Nicchiarelli knallt eine provokante Punkrock-Tonspur unter die marxistischen Manifeste ihrer streitbaren Hauptfigur, ehe diese an einer auszehrenden Beziehung zerbricht.

Alle Inhalte anzeigen

Auch die Liebe zweier Farmersfrauen in Mona Vastvolds melancholisch-poetischem Liebesdrama „The World to Come“ endet tragisch, wenngleich unter gänzlich anderen Umständen. Im ländlichen New York des Jahres 1856 trauert die junge Abigail um ihre verstorbene Tochter. Abgeschieden auf einem Bauernhof, findet sich keine Ablenkung von ihrem Schmerz, bis sie plötzlich Besuch von ihrer Nachbarin erhält.

Vanessa Kirby (Prinzessin Margaret aus der Netflix-Serie „The Crown“) und Katherine Waterstone verkörpern hingebungsvoll zwei jungen Frauen, deren leidenschaftliche Beziehung keine Chance bekommt. Übrigens: Nicht nur die Frauen sind hervorragend, sondern auch ihre „Ehemänner“, vor allem Casey Affleck. Affleck, der den Film auch mitproduziert hat, spielt eindrucksvoll, hält sich aber dezent im Hintergrund.

Alle Inhalte anzeigen