Kultur

Dirigent Kent Nagano: „Unsere Welt ist viel zu laut geworden“

Kent Nagano ist ein viel beschäftigter Mann. Er war als Musikdirektor an den Opernhäusern in Lyon, Los Angeles und München tätig. Seit September 2006 ist er Music Director des Orchestre Symphonique de Montreal; seit der Saison 2015/’16 ist der Amerikaner japanischer Herkunft Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg.

Doppelter Einsatz

Quasi „nebenbei“ dirigiert er die bedeutendsten Orchester der Welt und wird heuer bei den Salzburger Festspielen das Eröffnungskonzert mit dem Orchestre Symphonique de Montreal bestreiten und zudem mit den Wiener Philharmonikern die Neuproduktion von Hans Werner Henzes Oper „Die Bassariden“ realisieren.

Doch Nagano ruht ganz in sich. Im KURIER-Gespräch schließt er oft die Augen, denkt über Frage und Antwort nach, gibt freundlich Auskunft und findet auch die Zeit für philosophische Überlegungen.

KURIER: Sie haben mit Aufführungen von Werken wie „Saint François d’Assise“ Ihres Lehrers Olivier Messiaen in Salzburg Festspielgeschichte geschrieben. Nun eröffnen Sie zum zweiten Mal hintereinander das Festival. Ein Zufall?

Kent Nagano: Es ist eine große Ehre, mit Krzysztof Pendereckis „Lukaspassion“ und dem Orchestre Symphonique de Montreal die Festspiele eröffnen zu dürfen. Allein an der Wahl des Stückes sieht man, dass Intendant Markus Hinterhäuser in Salzburg neue Wege gehen will. Ein Unternehmen, das ich sehr gerne unterstütze. Aber ja, es ist im Grunde ein Zufall.

Penderecki wie auch Henze galten im 20. Jahrhundert als Avantgardisten. Sind sie das noch immer?

Man darf nicht vergessen, dass sowohl die „Lukaspassion“ als auch „Die Bassariden“ in den 60er-Jahren entstanden sind. Das war eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, ähnlich jener Zeit, in der wir heute leben. Aber beide Komponisten haben darauf nicht nur reagiert, sondern waren in ihren musikalischen Mitteln ihrer Zeit weit voraus. Heute zählen beide erfreulicherweise zum festen Kanon der Musikliteratur.

Also keine Avantgarde mehr?

Viel besser. Das 21. Jahrhundert ist gerade einmal 18 Jahre alt. Das ist eine sehr kurze Zeit. In meiner Generation, und ich bin jetzt 66 Jahre alt, dachte man, das 20. Jahrhundert sei die Avantgarde. Aber nun fühlen wir, dass das 20. Jahrhundert Vergangenheit ist und nichts mehr mit Avantgarde zu tun hat. Und – viel wichtiger: Wir sehen deutlich, dass dieses Jahrhundert nicht destruktiv für die klassische Musik war, sondern eines der blühendsten überhaupt. Der Platz, den ein Debussy, ein Messiaen, ein Webern, ein Schostakowitsch, ein Bernstein, ein Ives im Repertoire eingenommen haben, ist eine Bereicherung zum klassischen Werkkanon.

Warum haben aber viele Menschen Berührungsängste mit der zeitgenössischen Musik?

(denkt lange nach) Vielleicht weil unsere Welt viel zu laut geworden ist. Weil wir die Stille im Leben und in der Musik nicht mehr hören können. Musik macht etwas mit uns, löst Gefühle aus. Haben wir Angst davor, uns diesen Gefühlen auszuliefern? Wir sind der Musik gegenüber schutzlos, gleichzeitig beschützt sie uns umfassend. Musik ist eine überzeitliche Kunst.

Eine, die jungen Menschen aber immer weniger vermittelt wird?

Nein. Es gibt unzählige Vermittlungsangebote. In Montreal etwa gehen wir aus dem Konzertsaal hinaus und zu den jungen Menschen hin. Wir spielen an ungewöhnlichen Plätzen, und oft auch ungewöhnliche Musik. Ähnliches machen wir in Hamburg. Die Resonanzen sind sehr positiv. Was leider in den letzten Jahrzehnten weggefallen ist, ist die musikalische Bildung innerhalb der Familie oder der Schule. Für mich als Kind waren ein Bach oder ein Beethoven allgegenwärtig. Heute sind es Medien wie Twitter oder Facebook, die zur Verkürzung des Daseins führen. Die Musik aber verkürzt nichts. Das ist auch das Schöne an ihr.