Kultur

40. Todestag von Ian Curtis: Zeitzeugen erinnern sich

Ian Curtis erhängte sich in der Nacht auf heute in seiner Wohnung in Macclesfield bei Manchester. Er wurde 23 Jahre. Diese Schlagzeile schockte vor 40 Jahren die Musikwelt. Es war das Ende von Joy Division – und der Anfang einer kultischen Verehrung, die bis heute anhält. Die Band wurde zum Mythos, deren Geschichte immer wieder neu und anders aufgerollt wird. Aber es gibt auch viel zu erzählen, über das Ende des Punk und das Auftauchen einer Band, die eine Zeitenwende in der Popmusik einläutete.

Musikgeschichte schrieben Joy Division mit nur zwei (!) Alben: „Unknown Pleasures“ (1979) und Closer (1980). Diese Veröffentlichungen, die zunächst eher in Insiderkreisen bekannt waren, gelten längst als visionär und epochal. Die Mischung aus drückender Melancholie und gefrorener Schönheit gebar eine düstere Eleganz.

Zwar war Punk für die Werdung von Joy Division maßgeblich verantwortlich gewesen, aber dieser wurde kreativ überwunden und weitergedacht. Das „Fuck you“ des Punk wurde zu einem „I am fucked“. Ich bin am Ende. Auf Songs wie „Atmosphere“ und Zeilen wie „Don't walk away in silence“ haben The Cure und andere Epigonen ihrer Karriere gegründet.

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Licht und Schatten

In der langen Liste der Joy-Division-Abhandlungen sticht das zuletzt bei Heyne erschienene Buch „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ – Die Geschichte von Joy Division“ heraus. Dabei handelt es sich um die deutsche Ausgabe von „This Searing Light“ des renommierten britischen Musikjournalisten Jon Savage. Der Autor von Standardwerken über den Punk („England’s Dreaming“, 1991) hat den Weg des Beobachters und Zuhörers gewählt, um auch die andere Seite der Band zu zeigen. „Wenn man Joy Division live erlebte, war da natürlich etwas Dunkles. Aber auch viel Licht. Da war Kraft, Energie, etwas Erhabenes. Popmusik ist im Grunde destillierte Emotion, und in dieser Hinsicht sind Joy Division unerreicht“, sagte er in einem Interview mit der FAZ. Savage hat die Band seit ihren frühesten Tagen begleitet und ist sich auch Jahre danach noch sicher: „Joy Division war die kraftvollste Live-Gruppe, die ich je gesehen habe.“

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Savage lässt auf über 380 Seiten Peter Hook, Bernard Sumner und Stephen Morris – die ehemaligen Mitglieder von Joy Division und Köpfe hinter der New-Wave-Band New Order –, Ian Curtis Witwe Deborah Curtis, Artwork-Künstler Peter Saville, Tony Wilson (Mitgründer des Labels Factory Records) und Terry Mason (Tourmanager) erzählen. Er wollte nicht noch einmal über Joy Division schreiben, so wie es alle anderen tun, sagt der Autor und reiht in 13 Kapiteln – von „Die Sprache der Städte“ bis „Mai 1980“ – ein Interview ans nächste. Die O-Töne stammen zum größten Teil von den Gesprächen, die John Savage und Regisseur Grant Gee für eine Doku über die Band 2016 geführt haben.

Die Sichtweisen der Zeitzeugen widersprechen einander. Savage ordnet nicht ein, kommentiert nicht, färbt nicht ein, verschönert, dramatisiert nicht und macht es nicht zu seiner Geschichte. Der Leser bekommt nur eine Ahnung davon, wie es gewesen sein könnte, und kann selbst entscheiden, welches Bild dieses Mosaik an unterschiedlichen Erinnerungen schlussendlich ergeben soll.

Zugleich ist die Geschichte von Joy Division auch eine über die Stadt Manchester, die in den 1970er-Jahren an Hässlichkeit kaum zu überbieten war. Das deprimierende industrielle Setting prägte die Menschen, die dort aufgewachsen sind – und damit auch den Sound von Joy Division. Die Band klang so wie Manchester samt seinen Wurmvorsätzen wie Salford und Stretford: düster.

„Ich glaube, bis ich ungefähr neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen“, wird Gitarrist Bernard Sumner von Savage zitiert. Dort zu leben sei so, als würde man 70 Zigaretten pro Tag rauchen.

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Hass und Camus

In dieser Backsteinziegelwüste gab es nichts, für das es sich zu begeistern lohnte – außer Musik. Als die Sex Pistols 1976 in Manchester auftraten und die Botschaft „Macht selber Musik!“ verkündeten, waren Peter Hook und Bernard Sumner im Publikum.

Und sie folgten dem Ruf der Sex Pistols und gründeten eine Band, schlossen sich wenig später mit Ian Curtis zusammen und fanden mit Stephen Morris dann auch noch den passenden Schlagzeuger. Zuerst waren sie Warsaw, ab Jänner 1978 nannten sie sich Joy Division.


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Besonders intensiv und informativ sind im Buch die Passagen, in denen die Person Ian Curtis versucht wird, zu fassen. Was war das für eine Persönlichkeit? Was hat ihn angetrieben? Was zerstört? Darüber sind sich Weggefährten und Freunde nicht einig. Peter Hook beschreibt Ian Curtis etwa als ein soziales Chamäleon, das sich seinen Umständen anpasst: Mit Annik Honoré, mit der er seine Frau betrügt, werden Bücher von Camus gelesen und die Zeit in Kunstgalerien verbracht, mit den Kumpels wurden die Nächte durchgefeiert. Curtis war aber auch Vater und Ehemann, der abends mit einer Jacke herumlief, auf deren Rücken „Hate“ (Hass) stand. Er war Musik-Nerd, Fan von Kraftwerk, Cabaret Voltaire, Velvet Underground und den Stooges, ein Kontrollfreak, depressiv, nahm Valium und Drogen – eine durch und durch gespaltene Persönlichkeit, innerlich zerrissen. Und dann war dann noch seine lange Zeit verdrängte und nicht behandelte Epilepsie. „Ich weiß von einem wirklich schlimmen Anfall in der Zeit, als wir ,Closer’ aufgenommen haben, da stieß er sich am Waschbecken in der Britannia Row (ein Aufnahmestudio in London, Anm.) den Kopf, und wir fanden ihn mit einer Platzwunde auf dem Klo“, sagt Peter Hook.

„Das Schlimmste war für uns, dass wir uns so hilflos vorkamen; das war, als würde man jemandem beim Leiden zusehen und wissen, dass man nichts dagegen machen kann“, beschreibt Sumner.

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1980

Joy Division standen im Mai 1980 vor dem internationalen Durchbruch., wollten auf US-Tour gehen. Zeitgleich wurden Curtis’ Probleme zahlreicher: Seine Frau Deborah reichte die Scheidung ein, obwohl Curtis seine Affäre mit Annik Honoré beendete. Seine epileptischen Anfälle wurden immer schlimmer, sein Tabletten- und Drogenkonsum auch. Zwei Tage bevor der Flieger in die USA abhob, stieg Curtis aus. Er liegt in Macclesfield begraben. Sein Grabstein, der schon öfters gestohlen wurde, trägt die Inschrift „Love Will Tear Us Apart“.

Tribut-Event: Anlässlich des Todestages gibt es heute, Montag, einen Abend mit Musik, Poesie und Gesprächen zur Erinnerung an das Leben und Vermächtnis von Ian Curtis. Der Livestream startet ab 21 Uhr auf unitedwestream.co.uk

Hilfe: Wenn Sie oder eine Ihnen nahe stehende Person von Depressionen betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge in Österreich – kostenlos unter der Rufnummer 142.

Buch: Jon Savage - "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere" Übersetzt von Conny Lösch. Heyne Verlag. 384 Seiten. 20,60 Euro

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