Fabelhafte Welt: Demnächst wird Brüderlein vielleicht erwachsen
Von Vea Kaiser
Mein Lieblingsbruder ist gestresst, weil er noch zwei Monate lang keinen Stress hat. Im September gründet er ein Start-up. Jahrelang feilte er am Konzept und arbeitete in trostlosen, aber gut bezahlten Jobs, um Startkapital anzusparen. In seinem Lebensplan hatte er vorgesehen, vor der Gründung ausgiebig die Welt zu bereisen. Dafür nahm er sich 2020 eine monatelange Auszeit, die er schlussendlich in seiner kleinen Wohnung damit verbrachte, dem Universum beim Lachen zuzuhören – ach, wie lustig muss das Schicksal die großen Pläne von uns kleinen Menschlein finden. Seither sucht Brüderlein zwanghaft nach Möglichkeiten, etwas maximal Aufregendes zu erleben. „Sis, wenn ich gegründet habe und 30 bin, MUSS ich mich leider erwachsen benehmen“, erklärte er mir. Wüsten, Dschungel, mit einem Floß die Donau abwärts bis ans Meer treiben – sein Streben nach Abenteuern wurde zur nervlichen Belastung für die ganze Familie. Dann schlug ihm ein Freund (und routinierter Wandersmann) vor, gemeinsam einen Monat durch Nordschweden zu wandern. Man träfe tagelang keine anderen Menschen, und es wird dort zurzeit weder dunkel noch warm.
Mein Lieblingsbruder sagte begeistert zu. Nun muss man wissen: Er war noch nie lange wandern, er schätzt Körperhygiene, gutes Essen und Schlafen in absoluter Dunkelheit. Amüsiert begleitete ich seine Reisevorbereitungen. Vor seiner Abreise zeigte er mir seine Mahlzeiten für das kommende Monat: Couscous mit Tomatenmark und Porridge, abgepackt in kompostierbare Sackerl. Es war das Trostloseste, was ich seit Langem sah. „Weißt du, Sis, das mach ich noch, und dann werd ich mich ein bissi erwachsener benehmen. Hoffentlich“, sagte er zum Abschied.
Wenn ich im weichen Bett liege oder unter der warmen Dusche stehe, denke ich seither: Das Erwachsenwerden akzeptieren zu können, ist schon was Feines.
Vea Kaiser, das Ausnahmetalent aus Niederösterreich, ist seit ihrem umjubelten Buch-Erstling „Blasmusikpop“ von 2012 („großer Literaturspaß!“, „schwindelerregendes Debüt“) unumstrittene Lichtgestalt der jungen heimischen Literatur. Sie schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.