Kolumnen

Raab geht essen: Stockerwirt

Was ist Heimat? Ist es dort, wo wir unsere ersten Schritte riskieren, weg von Mutters oder Vaters oder wessen Hand auch immer, mit noch wackeligen Beinen, um hinzufallen, sofort wieder aufzustehen und weiter, weiter, weiter? Oder ist es der Ort, wo im Kreis unserer Lieben aus dem ersten der erste runde und irgendwann der fünfzigste, gar achtzigste Geburtstag wird? Oder hat es mit Blumenkränzen zu tun, die wir knüpfen und auf irgendwelche Locken oder Glatzen legen, um sie Jahre später auf der eigenen wiederzufinden? Verschrumpelte Kastanienmännchen, die verstaubt in der Ecke stehen und uns zuflüstern: Weißt du noch, damals? Ja, ich weiß es noch. Denn Heimat riecht, schmeckt, lässt sich ansehen, hören, fühlen. Alles ganz Sinn. Menschensinn. Ist Heimat ohne Menschen nur Raum? Und natürlich spielt das Gleichgewicht eine Rolle. Also Prost, ein Hoch auf die Heimat. Vor ihr muss uns nicht grausen, auch wenn sie schon dutzendfach zur Würze diverser brauner Suppen gedient hat. Heimat darf auch munden. Sogar fantastisch. Darum: Willkommen beim Stockerwirt. Meine Güte, wo ich überall schon gesessen bin, aber wenn ich dort die schwere Glastüre öffne, betrete ich die diversen, mittlerweile wunderschön renovierten Stuben nie allein, selbst wenn ich es wäre. Ich seh’ sie alle, meine verstorbenen Eltern, die Urlioma, unseren begrabenen Hund, und all die Lebenden, meine Frau, wie sie noch zwanzig Jahre jünger und nicht ganz so hübsch wie heut’ war, ihre Eltern, Großeltern, seh’ unsere Kinder im Maxi Cosi, Buggy, zuerst mit herrlichem Erdäpfelpüree und Faschierten auf ihrem Löfferl, irgendwann dem Schnitzel auf der Gabel und heut wahrscheinlich dem „War das ein glückliches Schwein?“ auf der Zunge. Vermutlich. Nur was ist das? Glück? Definitiv ein Zustand, den ich beim Stockerwirt empfinde und finde. Wenngleich das natürlich nicht schwer ist, selbst für Ersttäter, denn hier stimmt einfach alles, das Essen, das Ambiente, die Menschen dahinter. Besser geht’s kaum. Und nein, ich bin kein Testimonial oder bekomm’ etwas geschenkt – aber man wird ja wohl sein Glück noch teilen dürfen. Teilen müssen ist beim Stockerwirt übrigens garantiert. Auch wenn sich nach dem Abservieren der guten Portion Gefüllte Rindsroulade vom Rohrer Bio-Rind eine zweite locker ausginge – trotz dem bereits verdrückten Rindercarpaccio mit Rucola, Balsamico-Olivenölmarinade und Parmesan, samt anschließender Kürbiscremesuppe. Und selbstverständlich freu’ ich mich, wenn meiner Frau der göttliche Tafelspitz zu viel wird, und meine Schwiegermutter vor ihrer mit Maroni gefüllten, im Speckmantel gebratenen Fasanenbrust, den Rahmlinsen und Erdapfel-Frühlingsrollen samt Preiselbeeren erklärt: „Pfuh, das schaff’ ich nicht!“ – bevor ich dann den Kindern ein Schnitzelstück stibitz’ und mir die hausgemachte Vanilleoberscreme- schnitte mit Erdbeersauce bestell’. Und ja verurteilen Sie mich gern der Völlerei wegen, und gewiss, so billig wie beim Würstelstand ist es hier nicht, aber ich geh’ ja dort nicht wöchentlich hin und aufs Leben vergessen muss auch nicht sein, oder? Das Kastanienmännchen hinter mir hör’ ich grad flüstern, meine Kinder haben es bei Tisch im Stockerwirt-Garten mit Blick auf den Teich gebastelt, vor Jahren: „Vielleicht ist Heimat auch das Leben an sich!“

Eigentlich sind wir viel zu selten dort.

Landgasthaus Stockerwirt
Rohrberg 36, 2392 Sulz im Wienerwald
Tel. 02238/82590, stockerwirt.com
geöffnet Mittwoch bis Samstag 11.30–24 Uhr (Küche bis 21 Uhr), Sonn- und Feiertag 11.30–21 Uhr (Küche bis 20 Uhr)