Kolumnen

Paaradox: Der Wunderbaum

SIE

Oh Tannenbaum – der Versuch einer Prognose. Zunächst aber zwei Erinnerungen an die Christbäume vergangener Tage. Die meiner Kindheit waren zarte, leicht verbaute und recht schiefe Fichten, beladen mit Lametta und Engelshaar. Irgendwann zog ich aus und feierte erstmals auswärts – mit einem Sparefroh an meiner Seite, der bei der Christbaum-Restplatzbörse fündig wurde: Die Fichte hatte nur auf einer Seite längere Äste, der Rest war so verkümmert, dass man sie mithilfe von Schnüren an der Wand festtackern musste, damit sie nicht umfällt. Damals beschloss ich nicht nur das Bäumchen, sondern auch den Freund zu wechseln.

Messen und schnuppern

Jahrzehnte später weiß ich einen Profi an meiner Seite, der auch morgen wieder – sehr zeitig in der Früh – ausrücken wird, um seine Vorstellung des perfekten Christbaums zu realisieren. Mit der Wasserwaage in der einen und einem Geodreieck in der anderen Hand. Nun wird er den berühmten Einstein’schen Baum-Ast-Winkel messen, und dann mithilfe einer raffinierten Gleichung ausrechnen, wie viele Kugeln in den vorhandenen Baum-Raum passen. Außerdem wird er sich eingelesen haben, wie man als Weihnachtsmann nebenan den Frischezustand des Baums erkennt. Zu diesem Zwecke wird er sich leise ächzend niederknien, die Schnittstelle beschnuppern und mit seinen Fi

ngern an Nadeln ziehen. Er wird auch diesmal auf die Frage Heans, wos mochen Sie do? antworten: Dasselbe wie jedes Jahr, einen Wunderbaum für meine Frau finden, was sonst?! Um irgendwann in der Dämmerung nach Hause zu kommen und zu sagen: Mission completed! Habemus Baumum! Allein dafür lieb’ ich ihn. Auch wenn er, ebenfalls wie immer am Heiligen Abend, fluchen wird: Verdammt, das Zimmer ist viel zu niedrig! Dann reiche ich ihm still die Geflügelschere, einen Tupfer für die Nerven und Tee mit sehr viel Rum drin.

gabriele.kuhn@kurier.at / facebook.com/GabrieleKuhn60

ER

Die Advent- und Weihnachtszeit ist auch die Zeit lieb gewonnener Traditionen. In diesem Sinn spaziere ich seit Ewigkeiten zum Waldviertler Christbaumverkäufer meines Vertrauens. Nur beim allerersten Besuch hatte ich einst  meine Frau an der Seite. Und ich bin überzeugt, dass der Tannen-Guru seither jedes Jahr im Kreis seiner Familie die Erinnerung an diese merkwürdig umher scharwenzelnde Wiener Kundin zum besten gibt. Die als losgelöste Sondersachverständige ihren Mann auf der gemeinsamen Suche nach dem perfekten Baum  in den Wahnsinn getrieben hat. Ich stelle mir das richtig vor, wie die  Festgäste noch vor der Bescherung im Chor rufen: „Bitte, bitte, bitte Rupert, erzähl’ wieder die Geschichte von der lustigen Frau mit dem flackernden Blick.“ Die jeden Baum aus vier bis fünf unterschiedlichen Entfernungen begutachtet, mehrfach umrundet und Ast für Ast berührt hat, um zu spüren, ob die Energie richtig fließt. Die sich für die Bewertung sogar auf den Boden gelegt hat. Und die etwa 21 Mal die Frage Hm, was meinst? an mich gerichtet hat, um sie eine Sekunde später selbst zu beantworten – zu wenig breit, zu wenig hoch, zu wenig dicht, zu wenig überhaupt.

Gratwanderung

Und deshalb empfängt mich der Christbaum-Rupert in grandioser Verlässlichkeit mit den Worten: Grüß’ Sie .. und ... die Chefin hamma wieder daham g’lassen, oder?“ Ich schenke ihm ein von Herzen erlöstes Lächeln, sage Jawohl, hamma, und dann füllt er für mich eine Tassen mit Glühwein. Erst danach begeben wir uns im Duett auf die Gratwanderung zwischen Baumtraum und Baumtrauma. Und finden nach einem kabarettistisch wertvollen Ausschlussverfahren immer ein Exemplar, das dem Anspruch von gnä Kuhn annähernd gerecht wird.  Weil wir beide längst genau wissen, was „die lustige Frau“ sich wünscht. Und mir der Weihnachtsfriede heilig ist.

michael.hufnagl@kurier.at / facebook.com/michael.hufnagl9