Kolumnen

Mit ohne Brille

Die großartige Lily Brett schrieb einmal in einer Kolumne, sie habe einen Hydranten am Broadway für einen Hund gehalten und deshalb einen Augenarzt aufgesucht. Sie erzählte dem Arzt, dass sie sich vor Hunden stets in Acht nehme, dieser Hund sei ihr aber harmlos vorgekommen. Darauf der Arzt: Er war auch harmlos, er war ein Hydrant.

Brett lässt sich daraufhin an den Augen operieren und kann danach wieder scharf sehen. Das habe aber Nachteile, erklärt die Kolumnistin: Sie habe ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr erkannt. Sie musste feststellen, dass die Realität mit dem Bild, das sie von sich selbst hatte, nicht mithalten konnte.

Das ist nicht nur wunderbar jüdischer Humor New Yorker Prägung, sondern auch Ausdruck großer Weisheit: Nicht gut sehen zu müssen, ist ein Geschenk. Ich bin rechts kurzsichtig, links weitsichtig, habe Astigmatismus und eine angeborene Sehnervschwäche.  Mit Brille kann ich hervorragend Autofahren, ohne Brille kann ich ausgezeichnet lesen. Wobei: Genau genommen kann ich auch mit Brille nicht hervorragend Autofahren, ich kann dabei nur gut sehen. Ich fahre fast nie Auto. Dagegen lese ich fast ständig. Auf Anraten eines Freundes habe ich eine Gleitsichtbrille ausprobiert. Davon wurde mir schlecht und ich konnte damit weder Autofahren noch lesen. Zum Glück tauschte der Optiker die Brille um.

Das alles ist natürlich mühsam, aber auch fein: Denn wenn ich jemanden oder etwas nicht genau sehen will, was oft passiert, dann kann ich die Brille abnehmen. In den Spiegel schaue ich grundsätzlich ohne Brille, das macht mich schöner. Dabei passt mir die Brille gut, aber  wenn ich nicht scharf sehe, wird mein Aussehen schärfer, im Sinne von:  Bist deppert, is der schoaf.

Insofern freue ich mich fast ein bisschen auf den Tag, an dem ich ein Hörgerät brauchen werde, das ich jederzeit ablegen kann.  Nur Gerüchen kann man leider nicht entkommen, egal, wie alt man wird.