Hast du Federn?
Von Guido Tartarotti
Wenn ich aufs Klo gehe, denke ich ans Fliegen.
(Ich gestehe, das ist vermutlich kein Anwärter auf den besten ersten Satz aller Zeiten. Sicher nicht so gut wie „Nennt mich Ismael“. Aber vielleicht macht er Sie neugierig. Und außerdem ist er wahr.)
Ich wuchs in einer kleinen, sehr ruhigen Gemeinde südlich von Wien auf. Meine Eltern waren Deutschlehrer und achteten sehr darauf, dass bei uns zu Hause nur Hochdeutsch gesprochen wurde. Ich habe die Geschichte schon einmal erzählt und sie stimmt wirklich: Ich glaubte jahrelang, der Ort Vösendorf heiße eigentlich „Felsendorf“, werde jedoch von den Menschen umgangssprachlich ausgesprochen. Dialekt kannte ich nur vom „Mundl“ im Fernsehen.
In unserer Straße standen einige schöne Jugendstilvillen, in einer davon wohnte eine sehr nette amerikanische Diplomatenfamilie. Deren Sohn, ein paar Jahre älter als ich (ich war Volksschüler), bekam bei meiner Mutter Deutsch-Nachhilfe.
Eines Tages war er wieder einmal bei uns, um Unterricht zu nehmen, verspürte ein menschliches Bedürfnis, ging aufs Klo, sperrte ab – und bekam das Schloss nicht mehr auf. Ich weiß nicht mehr, wieso – vielleicht sind die Klo-Türschlösser in den USA so anders – er saß fest. Mein Vater war nicht da, meine Mutter und ich besaßen keine handwerklichen Fähigkeiten, also konnten wir dem armen, jungen Amerikaner nicht helfen. Und in dieser Situation fiel meine Mutter plötzlich in die Mundart und sagte durch die Tür zu ihm: „Host Federn?“
Dieser Ausdruck war nicht nur dem Amerikaner unbekannt, sondern auch mir, aber ich habe ihn nie vergessen: Federn haben steht für Angst haben. Vermutlich, weil sie Flügel verleiht. Ich denke jedes Mal daran, wenn ich aufs Klo gehe. Und irgendwo in den USA geht es einem Herrn in den besten Jahren – irgendwann kam mein Vater doch noch heim und befreite ihn aus seiner misslichen Lage – vielleicht ähnlich.