Das ist Stoff und wird geprüft!
Von Guido Tartarotti
Nach langer Zeit haben wir endlich meinen Vater wiedergesehen. Meine Freundin versteht sich ja mit meinem Vater so gut, dass ich fast ein bisschen eifersüchtig bin, aber nur fast. Mein Vater möchte in den Wald, einerseits, weil er den Wald liebt, andererseits, weil er dort jederzeit hinter einen Baum gehen kann, um auszutreten. Die Beobachtung des Zustands seiner Blase gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen meines Vaters.
Wir holen meinen Vater von der Endstation der Straßenbahn ab, und kurz darauf sind wir im Grünen, wo es wunderbar still ist.
Besser gesagt: Still wäre. Denn mein Vater kombiniert Wanderungen gerne mit Vorträgen. Ich habe extra eine Strecke mit starken Steigungen ausgewählt, aber mein Vater ist fit, es geht ihm die Luft nicht aus. Die Vorträge laufen immer nach dem gleichen Schema: Mein Vater stellt eine Frage, man versucht, zu antworten, er sagt „Lass mich doch bitte einmal ausreden“, und das Nächste, was man sagen kann, ist „Schön war’s, bis zum nächsten Mal“, Stunden später, bei der Straßenbahn.
Die Vorträge meines Vaters sind ebenso wirr wie faszinierend: Mit lauter Stimme brüllt er seine Ansichten in die Welt hinaus, er behandelt dabei Themen wie Politik, Sport, Kultur, kombiniert das alles mit persönlichen Geschichten, beschreibt im Vorbeigehen Pflanzen und Tiere des Waldes, kommt auf Personen, die er vor 50 Jahren gekannt hat, streut Details aus seiner Kindheit ein, macht sieben Seitenthemen auf, die er aber alle zu Ende bringt, und das alles, ohne Luft zu holen.
Im Wald schließt sich uns dann eine wildfremde ältere Dame an, die von den Vorträgen meines Vaters begeistert ist und einfach mit uns mitwandert (mein Vater ist gerade beim Thema „Wie man mit Kuhmist richtig düngt“).
Am Ende dieser Wanderung sind wir restlos erschöpft, aber um viel Wissen klüger, und hoffen, dass das Ganze nicht Stoff ist und geprüft wird.