Darf man von anderen Tellern essen?
Von Ingrid Teufl
„Ich will eh nur kosten“, sagt sie und greift nach seinen Pommes frites. Er verdreht die Augen und bestellt umgehend eine neue Portion. – Erst kürzlich griff ein Fastfoodhersteller diese vielen wohlbekannte Szene für einen Werbespot auf. Der Zugriff auf den eigenen Teller wird schon im Privaten oft als Übergriff empfunden.
Vielleicht weniger aus hygienischen Gründen als aus psychologischen. Um einige Klischees zu bedienen: Da kommen noch Jahrzehnte später die Sandwich-Kinder, die ihren Bestand gegenüber Geschwistern verteidigten, durch. Ebenso, wie die ungern teilenden Einzelkinder. Egal, warum: „Wenn der andere nicht mag, dass man von seinem Teller kostet, wird man es bleiben lassen“, sagt Brigitte Wlodkowski-Luger deutlich. Sie betreibt mit ihrem Sohn in Salzburg eine Tanzschule, 2015 organisierten sie die Eröffnung des Wiener Opernballs und auch Benimmkurse gehören zu ihrem Angebot.
Tischsitten regeln das Miteinander
Abseits der persönlichen Ebene gibt es allerdings Tischsitten, die den Umgang der Menschen miteinander regeln. Schließlich isst man außerhalb der eigenen vier Wände unter Fremden und präsentiert dabei unweigerlich ein Bild von sich selbst. Wer die Etikette in Restaurants klar auslegt, kann unsere aktuelle „Frage ans Leben“ nur mit Nein beantworten. „Es gehört sich einfach nicht. Das macht man nicht, es geht um einen gewissen Stil, den man an den Tag legt“, sagt Wlodkowski-Luger. „Ich bestelle mir ja ein Gericht, weil ich dieses möchte, der andere genauso.“ Bei Runden unter Freunden ist sie etwas milder. „Es liegt im Ermessen des einzelnen. Aber die anderen müssen es akzeptieren.“
Selbstredend, dass im Business-Bereich andere Regeln herrschen. „Von anderen Tellern zu kosten würde kein gutes Licht auf einen werfen.“ Beim privaten Dinner im Top-Restaurant umgeht man etwaige Peinlichkeiten, indem man den Kost-Wunsch gleich beim Bestellen dem Servicemitarbeiter mitteilt. Dann wird nicht selten ein Minihäppchen extra serviert. Als nette Geste empfinden Gäste auch, dass zum Beispiel das Dessert mit mehreren Gabeln an den Tisch gebracht wird.
Gemeinschaftsessen
Das könnte als Mini-Form eines Gemeinschaftsessens durchgehen. Miteinander eine Mahlzeit einzunehmen ist schließlich immer auch ein zutiefst sozialer Akt, der die Menschen zusammenbringt. In manchen Ländern wäre es überhaupt unmöglich, getrennt zu bestellen – zu teilen (engl. sharing) ist sogar erwünscht. „In der Tischmitte stehen mehrere Teller mit verschiedenen Speisen, jeder greift zu“, erklärt Haya Molcho. Das Durchkosten wird im Sinne von Genuss betrachtet.
Moritz Freiherr von Knigge, ein Nachfahre des deutschen Benimm-Papsts Adolph Freiherr Knigge (1752 bis 1796) outet sich auf seinem Blog als Verfechter des Kosthappens. „Wo ließe sich ein neues Gericht besser entdecken als auf dem Teller des anderen?“ Die gebürtige Israelin Molcho hat das levantinische Sharing-Konzept, das sie mit ihrer Familie pflegt, erfolgreich auf ihre Neni-Lokale umgelegt. „Teilt man viele kleine Portionen miteinander, vergrößert sich das Geschmackserlebnis.“ „Das geht weit über das Essen hinaus“, ist Molcho überzeugt. „Es hat auch viel mit Sensibilisierung und Wahrnehmung zu tun. Denn wenn ich mir zu viel nehme, bleibt für die anderen zu wenig übrig.“
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