Seilers Gehen: Mit ausgefahrenen Sensoren durch Salzburg
Von Christian Seiler
Als ich an einem schönen Morgen aus der „Blauen Gans“, dem mit Sicherheit schönsten Hotel der Stadt, auf den Herbert-von-Karajan-Platz hinaustrat und zur Pferdeschwemme hinüberspazierte, hörte ich plötzlich eine Stimme. Sie kam aus einem der peripheren Gebäude des Festspielbezirks, und es war nicht irgendeine Stimme: es war ein sonorer Bassbariton, der sich einsang, do-re-mi-fa-so, und zwischendurch kleine Melodiepartikel einflocht. Keine Ahnung, was er da sang, aber ich fühlte mich für einen Augenblick so verzaubert, als würde ich hinter einem transparenten Spiegel dem Geist von Fred Astaire dabei zusehen, wie er sich streckt und dreht, Bewegungen ausprobiert, zuerst wie zufällig, dann immer harmonischer, bis er den Körper in einen Rhythmus versetzt und so zu tanzen beginnt, wie es kein anderer Tänzer auf dieser Welt je konnte.
Ich stand, an die Mauer der Pferdeschwemme gelehnt, und hörte zu, bis die Stimme plötzlich verstummte. Blieb stehen, atmete den Nachklang ein, diese besondere Atmosphäre, die nur Kunst in die Welt setzen kann und ließ den O-Bus an mir vorbeifahren, bevor ich weiterging, mit weit ausgefahrenen Sensoren, um keine der Besonderheiten zu verpassen, mit der diese Stadt vollgepackt ist wie keine zweite. Am Festspielhaus vorbei, wo in ein paar Tagen vor den Premieren die Reichen, die Schönen und die, die gerne reich oder schön wären, zu besichtigen sein werden. Ich bedaure es sehr, dass Helmut Dietls Klatschreporter Baby Schimmerlos schon in Pension ist, er würde hier eine Batzenhetz haben, und wir mit ihm.
Jetzt war die Straße frei, ich ging in den Wilhelm-Furtwängler-Garten und musste einmal mehr über die überdimensionalen Essiggurkerln lächeln, die der Künstler Erwin Wurm hier in Reih und Glied aufgestellt hat. Auf der gegenüberliegenden Seite, im Toscaninihof, besuchte ich die „Frau im Fels“, ein verstecktes Kunstwerk des deutschen Bildhauers Stephan Balkenhol, das mit dem neun Meter hohen „Sphaera“ auf dem Kapitelplatz korrespondiert, aber anders als die monumentale Goldkugel mit der darauf stehenden Männerfigur in einer Nische im Fels verborgen ist.
Ich erinnerte mich an Christian Boltanskis fantastisches Schattenspiel „Vanitas“ in der Krypta des Salzburger Doms, das so viele Geschichten erzählt wie eine lebendige Kerze, aber bevor ich in die Unterwelt hinabstieg, beschloss ich, mir in der Stiftsbäckerei St. Peter einen Imbiss zu holen. Die mehr als 700 Jahre alte Bäckerei macht ein berühmtes Roggenbrot, das allerdings so schwer ist wie das Schicksal des Orest in der „Elektra“, deshalb entschied ich mich für die luftigen Briocheknöpfe, deren Duft am Vormittag so verführerisch bis auf den Kapitelplatz strömt – mehr als Brot und Brioche bietet die Stiftsbäckerei übrigens gar nicht an. Aß mein Brioche auf dem Kapitelplatz, betrachtete den Mann auf der Goldkugel und fühlte mich leicht.
Das vermag Salzburg an seinen guten Tagen.