Leben

Polly Adler wünscht sich unser schönes analoges Leben zurück

Freundschaft ist wie ein Fläschchen Riechsalz, das man immer im Notfallpaket haben sollte“, schrieb mir meine Freundin Marga Swoboda einmal. Wir hatten uns oft über Monate nicht gehört: Jede vor ihren Karren gespannt, zwischen Deadline-Druck bei den Zeitungen und Magazinen, die Chaotinnen wie uns beschäftigten, Kinderaufzuchts-Wahnsinn – und immer wieder gab es sogar einen Mann, der sich im Nachhinein als das Gegenteil einer Frischzellenkur erwies.

Aber bei jedem unserer Treffen passierte das Eigenartige, dass die verstrichene Zeit völlig egal war und man sich auch nach Wochen der Funkstille so vertraut war, als ob man sich erst am Vortag voneinander verabschiedet hätte.

Im Frühling 2013 waren wir gleichzeitig für ein paar Wochen in Paris gewesen. Gemeinsam pilgerten wir in alle Gedenkstätten von Schriftstellern: die prachtvolle Zimmerflucht von Victor Hugo, die bescheidene Klause von Balzac, Colettes feudale Schreibstube. Unsere Liebe zu Sprachkönnern (neben der Liebe zur Unvernunft) einte uns. Und im November desselben Jahres war sie dann plötzlich nicht mehr da.

„Was ist mit dir, du altes Luder!"

„Was ist mit dir, du altes Luder“ Noch immer hoffe ich völlig vertrottelt, dass ich nur in einen grausamen Traum geplumpst bin, aus dem sie mich mit einem schon etwas aufgebrachten Anruf aufweckt: „Was ist jetzt mit dir, du altes Luder! Ein Fingerhut Prosecco wird doch noch möglich sein. Ich bin in 20 Minuten im Engländer!“

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Der Klassiker: Wie wichtig einem ein Mensch ist, schnallt man oft erst dann, wenn er nicht mehr da ist. „Liebe“, seufzte Marilyn Monroe, „ist oft nur eine Kette von Anschlussfehlern“. In einer Gesellschaft, die darauf ausgerichtet ist, in einer hollywoodtrunkenen Zweisamkeit Erlösung zu finden, fristen Freundschaften in der sozialen Wertigkeit ein Mauerblümchendasein, sie sind quasi die Untermieter der romantischen Liebe. Zu Unrecht.

Die israelische Starsoziologin Eva Illouz ist in ihrer Beziehungsanalyse „Warum Liebe weh tut“ überzeugt: „Es würde uns viel besser gehen, wenn wir Freundschaften ein ebenso großes Gewicht verliehen wie unseren intimen Beziehungen.“

Die Dietrich und die E-Klasse an Freunden 

„Die Freunde, die man auch um vier Uhr morgens anrufen kann, die zählen“, wusste Marlene Dietrich, die sich im Alter in selbst gewählter Isolation in Paris verbarrikadierte. Solche Menschen, vor denen wir keine Fassaden aufrechterhalten müssen, die wir im Zustand emotionaler Devastiertheit um Rat bitten können und die neidlos unsere Erfolge teilen, stellen die E-Klasse im Freundesfuhrpark.

Darunter existieren endlos viele Nuancen von Verbindungen: Freunde, die als Spiegel für den eigenen Narzissmus dienen, beruflich motivierte Zweckverbindungen, oder Freundschaften, die „zu einem Geschäft werden, das mit Gefühlen handelt – mit Affirmation, Anerkennung und Amüsement“, wie der deutsche Publizist Björn Vedder in seinem Essay „Neue Freunde“ schreibt: „Viele Freundschaften sind ja oft nichts als Nutzverhältnisse.“

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Umso schöner sind jene Freundschaften, deren einziges Bindemittel Sympathie ist. E-Freunde sind die, mit denen man kichern, klatschen, so klug wie klein sein und kochen kann. Und keinerlei Wettbewerbszwang, wer jetzt das tollere Leben führt, herrscht.

In der digitalen Verpeiltheit des letzten Jahres ist uns allen schmerzhaft bewusst geworden, dass kein Zoom-Cocktail und kein Emoticon-lastiges Gebrabbel in WhatsApp-Gruppen analoges Kuscheln im Pulk in Kalorienbegleitung ersetzen kann. Wie sehr freue ich mich auf diesen Moment, wenn über meinem Wohnzimmer wieder eine Energiewolke aus Stimmengewirr, Gläserklirren und Lachsalven schwebt.

Und ich, im Gegensatz zu diesen Insta-Streberinnen, deren Tischdeko immer wie eine nordkoreanische Militärparade aussieht, leicht devastiert mit zwei vergessenen Lockenwicklern im Haar und einem Glas Cremantscherl in der Hand Appetizers serviere, die wie in einem Rudolf-Steiner-Kindergarten produziert wirken. Aber wahre Freunde er- und vertragen eben viel.