Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Vom Systemsklaven zum gesperrten Vergnügungspark

Der Blick vom Laaer Berg entschädigt für den langen Anstieg, den ich hinter mir habe. Vom Reumannplatz aus bin ich die Laaer-Berg-Straße bergauf gegangen, an geschlossenen Geschäften vorbei, grauen Gemeindebaufassaden, dem FavAC-Platz, machte einen Schlenker durch den Maxi-Böhm-Park, passierte das fassadenglänzende Porr-Haus, das ich sonst nur von der Südosttangente aus kenne, sah zwischen Tankstellen und Werkstätten ein paar Häuser, die schon hier gestanden sein müssen, als sich die Stadt noch nicht bis hierher ausgedehnt hatte.

Dann wird der Himmel ein bisschen höher, die Straße kommt mir breiter vor, und links, hinter einer ansehnlichen, großen Wohnhausanlage, beginnt endlich das Erholungsgebiet Laaer Wald.

Butterteich

Hier drehe ich meine Runde. Zuerst besichtige ich den Blauen Teich, dann den Butterteich, wo auf einer Aussichtsterrasse über dem Wasser eine kleine Werkzeughütte steht, die ein wütender, aber nicht unbegabter Sprayer dekoriert hat, der offenbar aus Polen stammt. Jedenfalls ist das Häuschen mit großen, roten Lettern verziert, die „POLSKA“ schreien. Daneben, schwarz grundiert, die Feststellung: Niewolnik Systemu. Übersetzt bedeutet das wohl so etwas wie „Systemsklave“. Ganz schlau werde ich daraus nicht, aber der Umgang mit Schrift erinnert mich ein bisschen an August Walla, den ganz Großen unter den Künstlern Guggings. Vielleicht wird auch diese Fassade einmal im Museum stehen, wer weiß.

Die Teiche sind natürlich ehemalige Ziegelteiche, und der Wald ist das Ergebnis einer monumentalen Aufforstung zwischen 1956 und 1970, als auf 40 Hektar Industriebrache 270.000 Bäume gepflanzt wurden. Heute bewegen sich Ausflügler, Jogger und Spaziergänger so selbstverständlich durch den Laaer Wald, als wäre er schon immer da gewesen, mich eingeschlossen. Kurz besichtige ich das Maramures Tor, ein schönes, verspieltes Stück rumänischer Handwerkskunst, das als Geschenk Rumäniens zur österreichischen EU-Präsidentschaft 2005 seinen Weg hierher fand. Ich empfinde das virtuose Schnitzwerk als Einladung, um eines Tages die Kunst der rumänischen Torschnitzer an Ort und Stelle zu betrachten. Aber das muss warten.

Böhmischer Prater

Natürlich statte ich auch dem Böhmischen Prater einen Besuch ab. Vergnügungsparks im Winter haben sowieso etwas Melancholisches, aber normalerweise wäre wohl wenigstens im Schlemmertreff oder im Bierstadl etwas los. Diesmal nicht, nur ein Glaskasten der Favoritner Freiheitlichen meckert über den „Coronawahnsinn“.

Im kleinen Wurstlpraterverschnitt warten Karussell, Riesenrad, Autorennstrecke, Dosenballwurf auf bessere Zeiten, von der Würstelbude gar nicht zu reden. Ein bisschen Schnee ist gefallen, es ist kalt. Eine kinderreiche Familie geht vorbei, die Kleinen sind aufgeregt, auch wenn sich nichts bewegt, keine Musik ertönt, die Farben im Jännergrau blass wirken.

Ich gehe weiter, hinauf zur Löwygrube, und hier faltet sich der Blick über den Osten vor Wien auf, samt Flughafen und Fernheizwerk, weit, beständig und auf selbstverständliche Weise großartig. Für heute bin ich am Ziel.

christian.seiler@kurier.at