Chronik/Wien

Wiener Fotoprojekt: Die Einkaufsstraßen-Biografen

„Böhle war bekannt für hausgemachte Spezialitäten. Es gab zwei Eingänge, darüber eine sehr wertige Schrift auf schwarzem Glas“, sagt Martin Frey. Er steht mit einem Klemmbrett in der Hand zwischen zwei geparkten Autos am Asphalt. Was er beschreibt, können die rund 30 Teilnehmer des Stadtspaziergangs (siehe unten) am Gehsteig vor ihm aber nur auf einem Foto sehen, das sein Kollege Philipp Graf in die Höhe hält. Im Lokal hinter Frey residieren statt dem Feinkostenladen nämlich ein Uhrengeschäft und ein Waxing-Studio. Es verkörpert damit jenes Phänomen, das die beiden Fotografen seit neun Jahren durch die Stadt treibt.

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„Wir haben bemerkt, dass sich Geschäfte und Straßen in Wien verändern – und das relativ rasch“, sagt Graf. Er und Frey dokumentieren daher laufend eigensinnige Geschäftsportale. 500 Fotos und drei Bücher sind mittlerweile entstanden. Sie zeigen aus der Zeit gefallene Läden wie „Kindermoden Süsses Mädel“ – und was aus ihnen geworden ist. „Uns sprechen Auslagen oder Portale an“, erklärt Graf die Motivauswahl. „Oder Geschäftszweige, wie eine Feuerzeugreparatur. So etwas kommt einem heute nicht mehr in den Sinn.“

Frey und Graf geht es aber nicht nur um Fotos, sondern auch um die Geschichten hinter den Geschäften – die sie oft gemeinsam mit den Inhabern recherchieren. „Die Leuchtschrift ist die Handschrift meiner Mutter. So bleibt eine Erinnerung an sie erhalten“, erklärt etwa Fleischerei-Chef Josef Kröppel der Gruppe. „Fleischselcher“ steht in pinken Lettern über seinem Laden in der Postgasse. Wir sind der letzte gewerbliche Fleischer im Bezirk“, sagt er. „Wahnsinn“, murmelt eine Dame im Publikum und schüttelt den Kopf. „Den merke ich mir.“

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Nostalgie-Trend

Auf Kunden mit einer solchen Haltung hofft Brigitte Lackstätter, Inhaberin der gleichnamigen Geschirrhandlung in der Wollzeile . „Wir können den Jungen nur sagen, dass sie in Geschäfte gehen sollen“, erklärt sie.

Zumindest in der virtuellen Welt stoßen traditionelle Läden bei der jungen Generation auf großes Echo: Auf Stadt- und Geschäftsbeschriftungen spezialisierte Instagram-Accounts verzeichnen etwa Tausende Fans. Und auch in der realen Welt findet Freys und Grafs Faible Anhänger. Der Verein Stadtschrift sammelt zum Beispiel Retro-Leuchtschriften und bespielt damit Hauswände (derzeit 6., Ecke Mollardgasse/Hofmühlgasse).

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Dass mit dem Ende eines Traditionsunternehmens nicht unbedingt auch seine Hülle verschwinden muss, zeigt die nächste Station des Spaziergangs: „Hier haben wir eine schöne Veränderung – nämlich fast keine“, sagt Graf und deutet in der Köllnerhofgasse auf eine Pop-up-Vinothek. Der Vergleich mit dem Foto zeigt, dass der geschnitzte Holz-Auslagen-Rahmen einer ehemaligen Schuhreparatur original erhalten ist.

„Es hätte mir nichts Besseres passieren können, als dieses schöne Portal“, schwärmt Inhaberin Stella Biehal. Sie kennt inzwischen aber auch die Nachteile der in die Jahre gekommenen Architektur. Ein Lieferant habe ihr Barrique-Fässer geschenkt, die habe sie im Laden aufstellen wollen. Aber: „Ich bin damit nicht durch die schmale Tür gekommen.“

Info

Traditionsbetriebe

Laut Wirtschaftskammer gibt es in Wien 5700 Handelsunternehmen, die älter als 30 Jahre sind und 38 Schildermanufakturen.

Spurensuche 2018

Bis 16. Oktober zeigt die Buchhandlung Lia Wolf Cabinett (1., Sonnenfelsgasse 3) Freys und Grafs Fotos. Info: www.geschaeftemitgeschichte.at

Ihre Tour fand im Rahmen der Spaziergang-Reihe Jane's Walk statt. Freiwillige führen dabei kostenlos durch die Stadt. Info: www.janeswalk.org

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