Chronik/Wien

1. Mai am Wiener Rathausplatz: Ein Tag mit einem Promille

Samstag gegen zehn Uhr ist man am Wiener Rathausplatz noch etwas verstimmt: Das kleine Orchester, das auf einer Bühne bei den Stufen Platz genommen hat, muss die Instrumente erst warm spielen.

Lange hat es nicht mehr Zeit, den richtigen Ton für die Aufgabe zu finden, die es in wenigen Minuten erfüllen muss.

Rechts vorm Orchesterpult stehen die obersten Funktionäre der Wiener SPÖ: Bürgermeister und Landesparteichef Michael Ludwig sowie Landesparteisekretärin Barbara Novak. Sie schauen über den mit roten Plakaten gesäumten Rathausplatz nach vorne zum Ring - in ein ebenfalls rotes Fahnenmeer.

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Um die 100 Funktionäre aus den Bezirks- und Teilorganisationen der SPÖ hat man herbeordert, um den Rathausplatz am heurigen 1. Mai zumindest ein bisschen zurückzuerobern.

Der traditionelle Sternmarsch ist (so wie im Vorjahr) wegen Corona zwar abgesagt. Für die ersatzweise ausgestrahlte TV-Produktion nimmt man aber am Rathausplatz aktuelle Bilder auf – wegen der Abstandsregeln jedoch nur mit einem Promille der sonst durchschnittlich 100.000 Besucher. 

Action für die Kamera

Um Punkt 10 Uhr geht es los: Das Orchester spielt die Partisanenhymne "Bella Ciao", die Funktionäre marschieren fahnenschwenkend Richtung Bühne. Zwischen ihnen: Mehrere Kameraleute, die das Ganze für den Stream festhalten.

Dann tritt Bürgermeister Ludwig ans Rednerpult.

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Er spricht über die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft, fordert eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes, preist seinen Gastro-Gutschein und freut sich, dass man am "höchsten Feiertag der Sozialdemokratie" doch eine Möglichkeit gefunden hat, zusammenkommen.

"Bravo!", schreit einer vom Ring nach vorne. 

Treue Zaungäste

Den Rathausplatz darf außer den Fahnenträgern niemand betreten – an Polizei und Securities kommt niemand vorbei. An den Absperrungen und Zäunen zum Rathauspark stehen jedoch mehrere Schaulustige, die meisten davon eingefleischte SPÖ-Anhänger. 

Eine Pensionistin hat ihren Rollator ganz nahe an den Zaun geschoben. Sie sei schon als Kind mit ihren Eltern immer hergekommen, erzählt sie. "Ein bissl was habe ich heuer doch zum Schauen", sagt sie. 

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Vergangenes Jahr war die SPÖ nur mit einer Mini-Gruppe auf dem Rathausplatz präsent. An ihre Stellen traten satte 15 kleine Initiativen, die das rote Aufmarschgebiet kaperten.

Heuer ist doch etwas vom Geist des sozialdemokratischen Festtags erfassbar. Oder, wie es Landesparteisekretärin Barbara Novak formuliert: „Wir spüren uns heuer wieder.“

Dass der 1. Mai wieder greifbar ist, liegt auch an Kleinigkeiten wie den roten Nelken, die man gratis aus einer Paletten-Konstruktion entnehmen kann - gleich neben dem Desinfektionsmittelspender. 

Kritik am Establishment

Eine Gruppe Burschen im Rathauspark erfreut sich lieber an Bier aus der Dose. In den 1. Mai feiern die vier Parteimitglieder sonst hinein: Vom Fackelzug der Sozialistischen Jugend am Vorabend kommen sie üblicherweise direkt auf den Rathausplatz. Doch auch der Fackelzug fiel heuer dieses Jahr aus. 

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Was heuer vor dem Rathaus geboten werde, sei mehr "ein Fest für die Parteieliten", sagt einer der Burschen. In normalen Jahren sei die Ansammlung der gesamten Sozialdemokratie eine gute Gelegenheit, Kritik zu üben: "Auf dein Transpi kannst du ja schreiben, was du willst". 

Immerhin habe man sich mit dem Ersatzprogramm "bemüht". Später werden die vier wie viele andere Nachwuchs-Rote im Rathauspark sitzen, Arbeiterlieder hören und trinken. 

Fahnen schwenken, singen

Über Lautsprecher beten zwei Funktionäre inzwischen die Forderungen der SPÖ herunter und heißen die Fahnenträger willkommen. 

Nach rund einer Stunde dürfen diese Pause machen - aber nur kurz: Um etwa 11 Uhr stimmt das Orchester die Internationale an - und dazu müssen für die Kameras die Fahnen geschwenkt werden. 

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Ein paar Jung-SPÖler mit Bierdosen in der Hand singen beim Nelken- und Desinfektionsmittelspender lautstark mit. „Höret die Signale“, plärrt ein Mann mit zerzaustem weißen Haar auf einem Fahrrad. 

Kleine Corona-Demo

Bei der Straßenbahnhaltestelle knarzt eine Lautprecher-Durchsage dazwischen: Man macht darauf aufmerksam, dass es auf den Linien 1 und D zu Verzögerungen kommt. Der Grund: Mehrere Demos, die durch die Stadt ziehen - darunter auch solche von Gegnern der Corona-Maßnahmen. 

„Es muss jeder mit sich selbst vereinbaren, ob er so etwas verantworten kann", sagt Ludwig dazu. "Das Virus ist immer noch sehr gefährlich. Wir haben daher bewusst keine Massen hergeholt und halten uns streng an die Vorgaben."

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Eine Abordnung der Corona-Maßnahmen-Gegner erreicht am frühen Nachmittag, als alle Aufnahmen im Kasten und die Fahnenträger weg sind, den Rathausplatz.

Und zwar just in dem Moment, als die großen Plakate, die an den Absperrungen auf die FFP2-Maskenpflicht hinweisen, abgenommen werden. 

Ludwig und Novak bekommen das nur aus der Ferne mit. Sie sitzen zu dieser Zeit schon im Rathaus im Bürgermeister-Büro zusammen. Um sich gemeinsam die TV-Produktion und die schönen Bilder vom Vormittag anzuschauen.