Vermisstenfall Christian Hohl: Der verlorene Sohn aus Krems
Von Yvonne Widler
Der 4. Dezember 2017 ist ein kalter Tag. Schneeregen prasselt auf die unruhige Wasseroberfläche der eisigen Donau. Der 20-jährige Christian Hohl wacht an diesem Montag erst um 11 Uhr am Vormittag auf und setzt sich verschlafen zu seiner Mutter ins Wohnzimmer, die ihm augenblicks eine Jause zubereitet.
Ein paar Stunden später kommt Christians bester Freund, Kevin Gruber*, zu Besuch. Sie plaudern ein bisschen, rauchen gemeinsam eine Zigarette auf dem Balkon. Christian Hohl reicht ihm seine Bankomatkarte und bittet ihn, 700 Euro von seinem Konto abzuheben. Er sei zu faul, um selbst zu gehen.
Kevin Gruber stellt keine Fragen, sondern besorgt rasch den Betrag für seinen Freund und kommt zurück. „Es war ungefähr 18 Uhr, der Supermarkt hatte noch offen“, erzählt Gruber. Da beide an diesem Tag nichts anderes mehr vorhaben, verabreden sie sich auch wieder für den späten Abend. „Wir wollten ein bisschen Alkohol trinken und FIFA auf der Playstation zocken.“
Gruber verließ die Wohnung in Krems-Mitterau schließlich gegen 19 Uhr und traf sich mit seiner Freundin. Es kam zum Streit mit ihr, sodass er sich erst gegen 23.30 Uhr wieder in der Wilhelm-Gause-Gasse 6, wo Christian Hohl gemeinsam mit seiner Mutter Carmen Hohl lebte, einfand. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits die Polizei vor dem Haus. Die Mutter schrie aufgelöst und heulend nach ihrem Sohn.
Zigaretten um 700 Euro?
Zwei Stunden zuvor hatte Christian Hohl in Jogginghose, Sportschuhen und Jacke die Wohnung verlassen, um zum fünf Minuten entfernten Zigarettenautomaten zu gehen. „Als er nach zwei Stunden noch immer nicht zurück war, habe ich Panik gekommen“, erzählt seine Mutter.
Nach KURIER-Recherchen soll er seinen Wohnungsschlüssel, die Bankomatkarte, sein neues iPhone und die besagten 700 Euro dabei gehabt haben. „In seinem Zimmer lag nur ein altes Handy, das er schon länger nicht mehr benutzt hatte“, sagt Carmen Hohl.
Zwei Wochen nachdem der junge Kremser als vermisst gemeldet worden war, griff das Landeskriminalamt Niederösterreich den Fall auf. „Christian Hohl hat eher zurückgezogen gelebt. Es gibt seitdem keine einzige Spur von ihm“, sagt Ermittler Josef Simhandl.
Auch Auslandserhebungen in Rumänien wurden durchgeführt, da dort Verwandte der Familie leben. „Die Spielekonsole, über die er im Internet war, wurde ebenso ausgewertet. Es haben sich überhaupt keine Anhaltspunkte ergeben“, sagt Simhandl.
Große Veränderungen
Dieser Vermisstenfall wirft so einige Fragen auf, die vordringlichste: Wer ist Christian Hohl? Auf den ersten Blick war er ein unscheinbarer, schüchterner junger Mann, der im Alter von 11 Jahren seinen Vater verloren hat. Von da an gab es nur noch die Mutter, die selbst mit ihrem Leben und ihrer Psyche zu kämpfen hatte.
Und es gab die Drogen. Seit dem frühen Teenager-Alter konsumierte er regelmäßig Cannabis, im Jahr 2015 erlitt er nach der Einnahme von Ecstasy-Tabletten eine drogeninduzierte Psychose, wodurch sich seine Persönlichkeit veränderte.
Er zog sich zurück, reduzierte seine sozialen Kontakte drastisch und verbrachte immer mehr Zeit zuhause vor der Playstation und im Internet. Die Lehre zum Bodenleger hat er nach einem Jahr abgebrochen, die Lehre zum Maler und Anstreicher bereits nach zwei Wochen.
Um festzustellen, ob Christian Hohl arbeitsfähig war und in welchem Ausmaß ihm Sozialleistungen zustanden, wurden im Jahr 2016 mehrere medizinische Gutachten über ihn erstellt. „Das Erreichen der Selbsterhaltungsfähigkeit scheint bei entsprechender Unterstützung wahrscheinlich“, heißt es in einem Schreiben.
Pläne für die Zukunft
Im Jahr 2017, dem Jahr seines Verschwindens, besuchte ihn regelmäßig eine Psychologin des Kremser Psychosozialen Dienstes, die aufgrund der Verschwiegenheitspflicht nicht mit dem KURIER reden darf. Was man aber weiß: Sie konnte einen guten Draht zu Christian Hohl aufbauen und sein Vertrauen in sich selbst wieder stärken.
Er hätte der Frau vertraut, sagt seine Mutter. Er hätte zuletzt sogar von einer eigenen Wohnung gesprochen und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Den Ermittlern gegenüber gab die Psychologin zu Protokoll, dass bei Christian Hohl zum Zeitpunkt des Verschwindens keine suizidalen Tendenzen erkennbar gewesen wären.
Dass der junge Mann seinem Leben ein Ende gesetzt hat, ist für Ermittler Simhandl aber durchaus eine Option. „Wir nehmen an, dass er entweder Suizid begangen hat oder dass er Opfer eines Verbrechens geworden ist, wir können beides nicht ausschließen“. Bei ersterem denkt Simhandl an die Donau, an der Krems liegt.
„Wenn Sie in diesem Fluss ertrinken, dann bleibt der Körper zunächst unten. Bei sehr kaltem Wasser kann das lange dauern“, erklärt der Kremser Feuerwehrkommandant Gerhard Urschler und spricht von mehreren Wochen. In dieser Zeit gleite der Leichnam am Grund der Donau umher, wo Schotter und Steine mit großer Gewalt auf ihn treffen.
Schließlich würde der Körper dadurch Stück für Stück zerbröseln. „Den finden Sie vermutlich nie wieder.“ Ist Christian Hohl an diesem Abend vor lauter Verzweiflung in die kalte Donau gesprungen? Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, dass bisher kein Leichnam gefunden wurde. Doch sein nahes Umfeld will daran überhaupt nicht glauben.
Gefährliche Kontakte
Monika Dvorak*, eine Freundin des Vermissten, ist sicher, dass das Drogenmilieu mit seinem Verschwinden zu tun hat. „Solche Menschen dürfen einfach nicht so tief in das Ganze hineinrutschen, weil sonst sind sie weg.“
Dvorak habe im Jahr 2017 erfahren, dass Christian Hohl Cannabis nicht nur konsumiert habe, sondern auch Dealerei betrieben hätte. Außerdem erzählt sie, dass er gerne in Wettbüros ging. Sie verwendet sogar das Wort Spielsucht. Dvorak hält ein Verbrechen nicht für abwegig. „Niemand hier tut das.“
Kevin Gruber hingegen vermutet seinen Freund im Ausland. „Er ist sicher in Deutschland bei seinen Zockerfreunden.“ Damit meint Gruber die jungen Männer, mit denen der Vermisste über das Playstation Netzwerk regelmäßig gespielt hat, die allesamt aus dem Nachbarland stammen.
An einen dieser Mitspieler war Christian Hohls letzte uns bekannte Nachricht gerichtet. Geschrieben am Nachmittag des 4. Dezember 2017:
„Ich habe bis 6 Uhr Zeit und muss dann etwas erledigen.“
Wenn Sie Hinweise zum Verschwinden von Christian Hohl haben, dann schreiben Sie uns bitte eine Mail an dunklespuren@kurier.at oder wenden Sie sich direkt an das niederösterreichische Landeskriminalamt unter 059 133 30 3333.
Wenn Sie an einer noch detaillierteren Aufarbeitung des Falls interessiert sind, dann hören Sie hier unseren dreiteiligen Dunkle Spuren-Podcast
Wichtig:
Wer Suizid-Gedanken hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits das Sprechen über die Gedanken dabei, sie zumindest vorübergehend auszuräumen. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist, kann sich an die Telefonseelsorge wenden: Sie bietet schnelle erste Hilfe an und vermittelt Ärztinnen, Beratungsstellen oder Kliniken. Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Depressionen betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge in Österreich kostenlos unter der Rufnummer 142.