Unter Terrorverdacht und dennoch frei
Selbst die Juristen im Justizministerium scheinen verwirrt. „Was auffällt, ist der Umstand, dass das Oberlandesgericht Graz (...) auch davon ausgeht, dass eine weitere U-Haft keinesfalls in einem Missverhältnis zur erwartbaren Strafe steht“, führt der Bearbeiter aus. Und dennoch: Auf Beschluss des Oberlandesgerichtes Graz wurden Mitte Juli drei Terrorverdächtige aus der U-Haft entlassen. Sie mussten nicht einmal ihre Pässe abgeben.
Rückblende zum 26. Jänner 2017. 800 Polizisten in Wien und Graz durchkämmen Dutzende Wohnungen und Moscheevereine Terrorverdacht, es geht um mutmaßliche Islamisten und Salafistenprediger. 14 Männer und Frauen werden festgenommen.
Sprung in den Februar 2018. Noch sitzen von den 14 Verdächtigen drei in Untersuchungshaft; die meisten, als Mitläufer eingestuft, wurden bereits entlassen. Die Ermittlungen gegen die Gruppe laufen zu schleppend, wie das Oberlandesgericht wohl befindet: Es trägt der Staatsanwaltschaft Graz eine „Enderledigung bis 21. Juni 2018“ auf.
Drei Milliarden Seiten
Da schrillen bei der Anklagebehörde die Alarmglocken. Erstens, weil die gesetzliche Frist bis zur Einbringung einer Anklage zwei Jahre beträgt, hier also bis Ende Jänner 2019. Und zweitens: Die abschließenden Polizeiberichte sind noch nicht fertig, Gutachten von Sachverständigen über Dschihadismus und islamistischen Terrorismus stehen aus. Immerhin wurden bei den Hausdurchsuchungen 14 Terrabyte an Daten sichergestellt. Das sind umgerechnet drei Milliarden Seiten an Text in A4-Format.
Die Generalprokurator, quasi der Anwalt der Republik, reagiert vorerst zurückhaltend. Auch, weil man sich bei „dringendendem Tatverdacht“ nicht vorstellen kann, mutmaßliche Islamisten aus der U-Haft zu entlassen: Aus der Frist des Gerichts könne „nicht abgeleitet werden, dass damit zwingend eine Enthaftung einherzugehen habe“, heißt es. Doch genau das passierte.
Andere Auslegung
Weshalb? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Laut Oberlandesgericht war die lange U-Haft-Dauer ohne fertige Anklage nicht angemessen. Das Justizministerium kann dieser Rechtsauslegung nicht folgen: Auf eine parlamentarische Anfrage der SPÖ im Bundesrat antwortet Minister Josef Moser, dass die zuständige Sektion eine Nichtigkeitsbeschwerde bei der Generalprokurator anrege. So etwas ist für einen Minister dann schon deutlich, denn „wir akzeptieren die unabhängige Rechtssprechung, das ist ganz klar. Aber eine Anregung bedeutet natürlich, dass die Sektion im Ministerium den Fall nicht ganz so sieht wie das OLG“, erläutert Sprecherin Britta Tichy-Martin. „Das bringen wir zum Ausdruck.“
Durch eine Nichtigkeitsbeschwerde soll festgestellt werden, ob das OLG Graz eine Rechtsverletzung begangen habe oder direkter ausgedrückt: Ob die Enthaftungs-Anordnung dem Gesetz entsprach, denn die „rechtliche Schlussfolgerung des OLG (...) vermag nicht zu überzeugen“, heißt es in der Anfragebeantwortung.
Sollte die Generalprokurator der „Anregung“ folgen, geht der Akt an den Obersten Gerichtshof. Doch das bedeutet für den aktuellen Fall der mutmaßlichen Dschihadisten „in führender Stellung“ nichts mehr: Sie können aufgrund der bekannten Vorwürfe nicht erneut in U-Haft kommen. „Aber“, so kommentiert Tichy-Martin, „es kann Signalwirkung für künftige Fälle haben“.