Ex-Neonazi über Holocaust-Leugner und den Spaß am Hass
Von Yvonne Widler
Früher war Christian Weißgerber einer, der überzeugt war, dass es während des Zweiten Weltkriegs keine Gaskammern gegeben hätte. Es gab Phasen in seinem Leben, da hat der heute studierte Kulturwissenschaftler den Holocaust geleugnet. Heute ist das Hakenkreuz Tattoo verschwunden und auch sein Leben ist ein komplett anderes. Weißgerber hat beschlossen, ein Buch über seinen Ausstieg aus der Nazi-Szene zu schreiben: "Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war", heißt es.
KURIER: Was war der Anstoß, um dieses Buch zu schreiben, was wollten Sie damit erreichen?
Christian Weißgerber: Verschiedene Dinge. Zum einen hatte ich das Gefühl, dass ich an einem Punkt angekommen bin, an dem ein Buch hilfreich sein kann, um andere Menschen über Radikalisierung in rassistische und nationalistische Strukturen aufzuklären. Auf der anderen Seite wollte ich aufzeigen, dass Stereotype, die viele Leute von Rechtsextremen oder Nationalpopulisten haben, nicht immer zutreffen.
Ich wollte zudem vor Augen führen, wie viel Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus im mitteleuropäischen Gedankengut enthalten sind. Denn der Versuch, dieses Gedankengut immer an die Ränder der Gesellschaft zu drängen, ist ja ein bisschen scheinheilig.
Es handelt sich also um ein Aussteiger-Buch, das es bis dato in dieser Form noch nicht gibt?
Ja, denn es gab bis dato kein sinnvolles Aussteiger-Buch, das sich nicht in Rechtfertigungsdiskursen verliert oder extrem oberflächlich bleibt. Mein Buch hat entscheidende Eigenheiten, die in bisherigen einschlägigen Publikationen nicht vorgenommen wurden. Das ist auch das Feedback, das ich bisher von Rezipienten erhalten habe.
Sie haben es selbst gerade angesprochen: Die Ränder der Gesellschaft. Man schiebt dieses rechte Gedankengut ja auch gerne ungebildeten und einfach gestrickten Menschen zu. Sie sind gebildet, halten Vorträge, haben später auch studiert. Sie sind also nicht der gängigen Vorstellung vom Nazi entsprechend.
Ich habe im Buch beschrieben, warum Nazis dumm sind. Dummheit ist für mich nicht die Abwesenheit von Bildung, Wissen oder ein Mangel an Intelligenz. Das Vermögen falsche Probleme zu erzeugen und daran zu glauben, das ist Dummheit für mich, also Fähigkeit, die alle Menschen besitzen und auf verschiedenste Weisen praktizieren.
Was wäre so ein falsches Problem im Kontext?
Die ‚Islamisierung des Abendlandes‘, in der plötzlich alle weißen Frauen vergewaltigt werden, überspitzt gesagt. Erstens gab es Vergewaltigungen auch schon vor 2015, also vor der sogenannten Flüchtlingskrise, die in dieser Formulierung übrigens ein weiteres falsches Problem ist, weil es so tut, als seien die Menschen das Problem und nicht vielmehr die Verwaltung, Unterbringung und das gemeinsame Zusammenleben.
Die Frage nach der Bildung ist außerdem insofern dumm als sie so tut, dass nur eine bestimmte bürgerlich-liberale Bildung die richtige Bildung wäre. Aber ein Bildungsbegriff beinhaltet mehr als dass Menschen bestimmte Formen von Wissen in Form von Erzählungen oder Denkoperationen tradieren. Bildung umfasst ihr Verhalten, ihr Auftreten, ihren Umgang, wie sie an Sitten anschließen und wie sie sich im Alltag benehmen. All diese Arten von Bildung haben Menschen, die sich radikalisieren sehr wohl. Sie sind nämlich in Wort und Tat enorm angepasst an ihre jeweilige Gruppe.
In der Schule kritisch denken zu lernen, wird meist darauf reduziert, Dinge zu hinterfragen. Genau das machen diese Gruppen aber. Sie vollführen den kritischen Reflex also, aber auf eine falsche Weise. Denn es ist nicht kritisch, Dinge ständig so zu hinterfragen, dass sie der eigenen Weltanschauung entsprechen.
Heute sind Sie 30 Jahre alt. Wie lange waren Sie als Nazi aktiv?
Das ist eine schwierige Frage. Ich würde sagen, „handelsüblicher Nazi“ war ich im ganz jungen Alter, also von 15 bis 18. Danach schwenkte ich um in Richtung Neu-Nazitum, wo ich anfangen habe, den historischen Nationalsozialismus innerhalb der Nazi-Szene zu kritisieren.
Was bedeutet dieses Kritisieren konkret?
Ich habe begonnen, ethnopluralistische Argumente zu benutzen. Ich wollte nicht mehr als Antisemit gelten, sondern nur noch als Antizionist. Ich habe den Kapitalismus und seine Globalisierung als wichtigstes Problem begriffen, also im Endeffekt die typisch neurechten Argumentationen, die natürlich immer noch rassistisch und nationalistisch sind, aber anders funktionieren. Danach war ich noch rund drei Jahre in der Szene aktiv. Das war eine Zeit, in der ich nicht als Nazi bezeichnet werden wollte, strukturell gesehen war es aber freilich das gleiche.
Warum waren Sie Nazi?
Das ist schwer zu erklären. Da kommen viele Faktoren zusammen, die einen dazu bringen, Nazi werden zu wollen.
Welche Faktoren waren es bei Ihnen?
Für mich war es sehr angenehm, dass mir meine Identität als deutscher weißer Europäer niemand wegnehmen konnte, dass ich mich dort als Kämpfer für das Gute, Wahre, Schöne sehen konnte, denn ich war auch in ganz jungen Jahren durchaus nicht ungebildet. Die Art und Weise, wie man dort die Auslegung von Geschichte tradiert hat, hat in höchstem Maße etwas mit Bildung zu tun. Die gilt zwar nicht an der Schule als offizielle Geschichtsschreibung, aber die Leute können wortreich ihre alternativen Fakten und komplizierten Geschichtsrevisionismen herunterbeten.
Dass sie also zu blöd zum Denken oder schlicht ungebildet wären, ist ein gefährliches Vorurteil, weil man dadurch den Gegner unterschätzt. Für junge Männer ist es angenehm, in bestimmten ideologischen Zusammenhängen agieren zu dürfen, in denen sie selbst die Retter der unschuldigen Frauen und auch die Retter ihres imaginierten Kollektivs sind und sich dadurch besonders wichtig für den Erhalt des eigenen Volkes und der eigenen Kultur fühlen. Das war auch bei mir so.
Zieht dieses Gedankengut mehr Männer an als Frauen?
Ja, es zieht mehr Männer an, schon alleine deshalb, weil diese - laut dem Narrativ - die Kämpfer und Retter sind. Aber sowohl in der Nazi-Szene als auch in etwas abgeschwächteren Formen von Rassismus und Nationalismus, wie bei den Identitären, der AfD oder der FPÖ gibt es sehr wohl Frauen, die sich von den Gedanken der vermeintlichen Natürlichkeit der Geschlechterrollen angezogen fühlen, wo die Frau eine Art zweibeinige Legebatterie ist, die sich um das wohl der Familie und des Mannes kümmert, während dieser vor allem das Geld besorgt und das Vaterland verteidigt. Ich habe das jetzt bewusst etwas überzeichnet beschrieben.
Dieses Gedankengut ist also in erster Linie für junge Männer attraktiv, bei Frauen sind die Gründe dorthin zu gehen, aber nicht so unterschiedlich. Diese Frauen sehen das Narrativ nicht als Unterdrückung. Das ist nachvollziehbar, wenn sie den Fokus darauf richten, dass all das natürlich oder gottgegeben sei. Dass Frauen hauptsächlich Mütter und Sorgearbeiterinnen sind und nicht viel mehr, in dieser Rolle können einige Frauen sehr positiv aufgehen.
Warum denken Sie wäre so eine rechte Bewegung bis hin zum Nazismus für eine Frau attraktiv?
Weil es genauso wie für Männer attraktiv ist, Teil einer verschworenen Gemeinschaft zu sein und diese zu verteidigen. Auch für junge Frauen macht Hass Spaß. Die Lust am Ressentiment gibt es bei allen Geschlechtern. Und der Punkt, sich mit der vermeintlich natürlichen Geschlechterrolle zu identifizieren, ist zudem doch gar nicht so ungewöhnlich.
Auch in Österreich sind die konservativen Wertvorstellungen noch sehr weit verbreitet. Und an diese können Nazis sehr gut anschließen. Diese Vorteilsverteidigungspolitik, wie sie auch von der FPÖ betrieben wird, ist in vielen europäischen Ländern zu beobachten.
Sie haben gerade gesagt: Hass macht Spaß. Können Sie erklären, was genau es ist, das an Hass Spaß macht?
Wir brauchen uns doch nur anzusehen, wie heutzutage Hatespeech oder Hasskommentare angestiegen sind oder Mobbing als gesellschaftliches Problem in den Mittelpunkt gerückt ist. Die Leute, die nicht die Empfänger dieser Kommentare sind, machen das auch aus Freude. Weil sie Spaß daran haben, andere zu ärgern und zu erniedrigen. Das kann man vielleicht nicht ganz verstehen, wenn man das selbst nie gemacht hat. Was es für ein erhebendes Gefühl ist, andere Menschen alleine durch Sprache umher zu scheuchen oder zum Weinen zu bringen.
Sie haben das gemacht?
Ja. In der Schule sehr oft sogar. Und daher kann ich verstehen, warum das so vielen Menschen Freude bereitet. So unangenehm mir das heute auch ist zuzugeben, aber das ist ein unglaublich belebendes Gefühl, diese Art von Macht über andere Menschen zu haben. Heute begreife ich, was ich da anderen Leuten angetan habe. Also mir war das früher schon klar, was ich da mache, aber da hatte ich dennoch keine Empathie dafür, weil ich mir dachte, diese Menschen haben das aus unterschiedlichen Gründen verdient.
Ich habe immer Rechtfertigung für mein Verhalten gefunden. Rechtfertigungen für die Sachbeschädigungen, die ich angerichtet habe und Rechtfertigung für die Einschüchterungen, die ich Menschen gegenüber losgelassen habe. Einige dieser Szenen sind im Buch beschrieben.
Der Holocaust wird in diesen Kreisen oft verneint? Waren Sie auch einer von jenen, die gesagt haben, es gab keine Gaskammern?
Es gab verschiedene Phasen in meinem Leben. Dazu muss man wissen: Menschen werden nicht von heute auf morgen Holocaust-Leugner. Das passiert Schritt für Schritt. Ja, es gab auch bei mir eine Zeit, wo ich das geleugnet habe. Das fängt meistens damit an, dass der Holocaust relativiert wird. Diese Leute setzen sich mit der Geschichte auseinander und dann spricht man in Deutschland über die Bombardements der Alliierten, vergleicht sie mit dem Holocaust.
Oft beginnt man zu relativieren, um Narrative zu finden, in denen die eigene Gruppe in ein gutes Licht gerückt wird. Auch deshalb kommt man zu gefälschten Zahlen. Das kann dann soweit gehen, dass es heißt, es handle sich um einen Plan der jüdischen marxistischen Weltverschwörung, um für die nächsten Jahrzehnte die Deutschen zu knechten. Da gibt es die krassesten Endformen.
Es wird also die Opferrolle umgekehrt?
Ja oder Verschwörungstheorien hervorgekehrt, wie mächtig angeblich jüdische Menschen sind. Da gibt es ganz viele verschiedene Erzählungen, an die sich die Menschen anschließen. Und ja, das kann so weit gehen, das es heißt, die Gaskammer hätte es nie gegeben. Aber sie finden ihre unterschiedlichen Legitimationen, die einem selbst Vorteile bringen, weil sie die eigene Gruppe und die eigene Identität sehr positiv darstellen und auch Opfer sein lässt.
Ich habe gelesen, dass Ihnen in Ihrer Nazi-Zeit Umweltschutz und vegetarische Ernährung besonders wichtig waren. Finden Sie es naiv, dass viele Menschen überrascht reagieren, wenn sie davon erfahren?
Die Frage zum Umweltschutz zeugt meist von fehlender Sachkenntnis beim Fragenden. Es ist so, dass die Vegetarier- und erste Ökobewegungen zutiefst völkische Bewegungen waren, die sehr viel mit antisemitischen Bewegungen zu tun hatten. Sie zählten Menschen wie Heinrich Himmler und Rudolf Höß in ihren Reihen. Das haben viele Menschen einfach vergessen, denn sie denken, das seien zutiefst emanzipatorische oder linke Verhaltensweisen. Die meisten Leute, die meinen, Nazis hätten nicht genug Bildung, haben selbst kaum Fachwissen zum Thema.
Was hat Sie vom Nazi-Gedankengut weggebracht?
Viele Faktoren. In der letzten Phase habe ich immer noch Teil einer nationalrevolutionären Bewegung sein wollen. Übrigens mit sehr vielen Leuten, die heute bei den Identitären sind. Wir haben damals schon viele Dinge gemacht, die die heute machen. Das ist damals in der Szene nicht überall gut angekommen, sich vom historischen Nationalsozialismus abzuspalten, nicht mehr von Rasse zu sprechen. Ich hatte bestimmte Vorstellungen von elitärer Veränderung.
Meine Gruppe und ich haben uns als Elite gesehen, nicht auf Augenhöhe mit den typischen Skinheads und Alt-Nazis. Trotzdem mussten wir mit diesen Leuten aber zusammenarbeiten – etwa bei Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen. Die Situation wurde für mich immer unangenehmer. Ich musste mit diesen Alt-Nazis zusammenarbeiten, obwohl ich sie aufgrund meiner eigenen Überheblichkeit zutiefst abgelehnt habe, dabei aber wusste, wir brauchen diese Leute als Konsumnazis und Kanonenfutter.
Und so haben Sie sich langsam entfernt.
Bei mir sind da über einen längeren Zeitraum Ungereimtheiten stehen geblieben. Etwa, dass jede Form von nationalistischer und rassistischer Politik, auch wenn sie sich wie bei der FPÖ als kulturell traditionsrettend definiert, immer darauf aufbaut, dass gesellschaftliche Probleme auf Menschengruppen abgewälzt werden. Der Klassiker: Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Die Ausländer sind die, die kriminell sind und unser Sozialsystem unterwandern, weil sie faul sind und nur kassieren. Es hat bei mir lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass Gesellschaft so nicht funktioniert.
Kann man aus so einer Nazi-Gruppe leicht aussteigen?
Ich war in einer Gruppe, in der ich wichtige Positionen innehatte. Daher war es anderen nicht möglich, mich zu etwas zu zwingen. Ich war Ideologe, der Redner und der Musiker. Ich wollte das alles einfach nicht mehr machen und das wurde auch akzeptiert. Im ersten Schritt habe ich mich auf andere Dinge im Leben konzentriert. Etwas später kam dann die öffentliche Distanzierung.
Sie haben Ihre Geschichte auch deshalb in Buchform gepackt, „weil es jetzt eine Generation der nicht mehr typischen Nazi-Schläger gibt, die großen Einfluss hat“, haben Sie einmal gesagt und bezogen sich auf Menschen wie etwa Martin Sellner, der einer der führenden Akteure der Identitären ist. Was denken Sie über ihn und diese Bewegung?
Wir haben in meiner Zeit ganz ähnliche Dinge gemacht, die die Identitären heute machen und wir hießen damals Nazis. Das wurde uns ganz klar gesagt. Jetzt kam die AfD, die Identitären, die FPÖ – sie alle haben sehr ähnliche Argumentationsmuster, haben eine ähnliche Art, Politik zu machen. Die AfD ist juristisch gegen die Nazi-Zuschreibungen vorgegangen. Auch Martin Sellner beteuert die ganze Zeit, er sei lediglich ein braver Patriot, obwohl er noch vor wenigen Jahren in der Nazi-Szene aktiv war.
Es geht doch darum: Ihnen allen ist klar, dass die Nazi-Zuschreibung der ultimative Ausschluss vom demokratischen Diskurs bedeutet. Das haben die Identitären erkannt, das hat Heinz-Christian Strache erkannt. Aber sie alle sind offen rassistisch, nationalistisch und chauvinistisch agierende Leute. Und sie sind auch durchaus gewaltbereit, das hat man bei vielen Aktionen des österreichischen Innenministers gesehen, dass er nämlich keinerlei Interesse daran hat, einen Frieden in der Gesellschaft voranzutreiben.
Sie sehen gerade die Konservativen hier in der Pflicht.
Genau. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit diesen Anschauungen umgehen, muss an die Konservativen gehen. In Österreich an Sebastian Kurz. Ich sehe ihn ganz klar in der Verantwortung, stärker gegen die FPÖ zu agieren. Das hat er mehrfach verpasst. Das Problem dieser Rückgratlosigkeit der konservativen Politiker sehen wir aber auch in Deutschland, wenn es zur Handreichung mit der AfD kommt.
Wie würden Sie ihre aktuelle politische Ausrichtung definieren?
Keine Ahnung, das lasse ich andere für mich machen. Ich äußere mich über mein Buch und in Interviews zu meiner Biographie und das reicht schon aus, dass Menschen die wildesten Ideen davon bekommen, wie sie mich betiteln.