„Wachstum der Bevölkerung sorgt für Flächenfraß“
Von Josef Ertl
Johann Hingsamer ist Präsident des oberösterreichischen Gemeindebundes, eine Funktion, die er nach 12 Jahren am 13. September abgeben wird. Der 66-Jährige war von 1991 bis 2020 Bürgermeister von Eggerding (Bez. Schärding) und von 1997 bis 2021 Abgeordneter zum Landtag.
Am 29. und 30. Juni findet in Wels der österreichische Gemeindetag statt, an dem die Bürgermeister aus ganz Österreich teilnehmen werden. Der Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Landeshauptmann werden reden. Parallel dazu findet die Kommunalmesse mit mehr als 2.000 Ausstellern statt.
KURIER: Es gab eine heftige Diskussion um die Abholzung von 18 Hektar Wald entlang der Westautobahn in der Gemeinde Ohlsdorf. Dort wird nun ein Lebensmittellager der Firma Rewe errichtet. Diese Umwidmung wurde vom Ohlsdorfer Gemeinderat beantragt. Ist es noch zeitgemäß, dass die Gemeinden für die Raumordnung zuständig sind?
Hans Hingsamer: Es ist gut, dass die Raumordnung in den Händen der Gemeinden ist, denn sie kennen die Situation vor Ort am besten. Der Gemeinderat beschließt das und legt das der Aufsichtsbehörde, dem Land, zur Prüfung vor. Die Gemeinde ist zwar zuständige Behörde, sie ist aber bei genauer Betrachtung Antragsteller. Denn die Aufsicht des Landes in der Raumordnungsabteilung verlangt von der Gemeinde im Verfahren Gutachten, zum Beispiel vom Naturschutz, forsttechnische Gutachten, Gutachten über die Lärmentwicklung etc. Dann prüft das Land, um eine Interessensabwägung vorzunehmen.
Es kommt zu zwei Schritten. Die Gemeinde beantragt beim Land die Genehmigung. Sie führt auch ein Stellungnahmeverfahren durch, bei dem alle Gemeindebürger, Grundanrainer etc. ihre Stellungnahmen abgeben können. In dieser Zeit werden auch die Fachgutachten eingeholt.Die Stellungnahmen werden dem Gemeinderat vorgelegt. Er muss sich im zweiten Verfahren damit auseinandersetzen. So wurde zum Beispiel im konkreten Fall Ohlsdorf vorgeschrieben, dass der Wald zwar gerodet werden darf, aber eine noch größere Fläche als Ersatz aufgeforstet werden muss. Das Land hat auch im zweiten Schritt die Sache Ohlsdorf genehmigt.
Ist die Entscheidung in Ohlsdorf für Sie nachvollziehbar?
Ja, das ist sie. Wir haben immer die Diskussion um den Flächenverbrauch. Die Verbauung der besten Agrarflächen tut mir am meisten weh. Denn diese sind in guter Lage, eben, keine Hanglagen. Dort, wo die Infrastruktur optimal ist (Anbindung an das Bahnnetz, an die Autobahn), findet der stärkste Flächenverbrauch statt. Hier ist der Druck zur Umwidmung am stärksten. Die Verantwortung der Gemeinde ist in der Raumordnung eine große. Sie kann aber nicht tun und lassen, was sie will, denn sie hat die Aufsicht im Hintergrund.
Die Landwirtschaft ist seit Jahrzehnten in der Defensive. Immer mehr Bauern hören im Haupterwerb auf. Nächste Generationen, die zur bäuerlichen Bewirtschaftung keinen Bezug mehr haben, verkaufen dann die Gründe, weil sie Geld benötigen. Der zunehmende Flächenverbrauch hängt mit der Umstrukturierung der Gesellschaft zusammen. Die Landwirtschaft produziert aufgrund der Produktivitätssteigerung auf weniger Fläche mehr Produkte, gleichzeitig werden Gründe für Wohnungen, Häuser und Betriebe benötigt.
Ja, es ist so. Natürlich schaut jede Region und jede Gemeinde, dass sie Arbeitsplätze in ihrer Region, in ihrer Gemeinde bekommen kann.
Damit die Einheimischen nicht zum Auspendeln gezwungen sind.
Jede Betriebsansiedelung beeinflusst die Entwicklung der Gemeinde. Dort, wo Jobs angeboten werden, lassen sich die Menschen nieder. Das ist natürlich mit Flächenverbrauch verbunden.
Die Gemeinde hat mit mehr Betrieben stärkere Einnahmen.
Ja, durch die Kommunalsteuer. Die Gemeinde muss auf eine wirtschaftliche Entwicklung schauen. Daran hängt sehr viel. Kann die Gemeinde die Nahversorgung halten, den Wirt, das Kaufhaus etc.? Dort, wo es Jobs gibt, findet auch die Nahversorgung statt, dort, wo es keine Arbeitsplätze gibt, nicht. Gebiete, die gut an das Verkehrsnetz angebunden sind, tun sich leichter als abgelegene Regionen, wie zum Beispiel im Sauwald, wo Abwanderung stattfindet. Der Flächenverbrauch ist auch dadurch entstanden, weil wir neue Rekordzahlen von 680.000 Arbeitsplätzen in Oberösterreich haben.
Die Beschäftigenanzahl steigt. Die Landesregierung rechnet für 2030 mit rund 129.000 zusätzlichen Beschäftigten.
Man kann die Menschen nur beschäftigen, wenn man den Betrieben Flächen zur Ansiedelung anbietet. Der Flächenverbrauch ist ohne Zweifel ein Problem. Aber die derzeitige Tendenz zeigt in die richtige Richtung. Der Flächenverbrauch geht zurück. Das Ziel wäre ein österreichweiter Verbrauch von zweieinhalb Hektar pro Tag. Derzeit sind wir bei zwölf bis 13 Hektar. Früher waren es 24 Hektar.
Jede Fläche, die verbaut wird, schmerzt. Wenn ich mir meinen eigenen Bezirk Schärding ansehe, dann war das Gebiet zwischen der Stadt Schärding und dem Grenzübergang Suben früher eine wunderbare Agrarfläche. Beste landwirtschaftliche Gründe entlang des Inns. Dort arbeiten heute sehr viele Menschen. Allein EVG beschäftigt in St. Florian bei Schärding 900 Mitarbeiter. Dieser Hochtechnologiebetrieb bietet gute Jobs. Auch in St. Martin/I., in Ort/I. und in Reichersberg sind große Unternehmen wie zum Beispiel FACC entstanden. Natürlich sind wertvollste Flächen verbaut. Wenn wir diese Wirtschaftsentwicklung haben wollen, dann benötigt die Industrie Standorte.
Im Landtag wurde beschlossen, dass vornehmlich die Leerstände anstelle von Neubauten genutzt werden sollen.
Die Leerstände, die es gibt, sind nicht so groß wie wir glauben. Man muss mithilfe von Fördermitteln Druck machen, um Leerstände nutzbar zu machen. Man muss sie so fördern, dass der Grundpreis ortsüblich wird, wenn der Altbestand abgerissen werden muss, damit die Fläche für den Neubau frei wird. Wir haben aber Flächen dabei, bei denen der Abriss das Mehrfache des Grundstücks kostet. Das macht kein Investor. Es gibt zwar eine Förderung der EU, aber sie ist noch bescheiden.
Stichwort Zersiedelung der Landschaft. Kritik an der Raumordnungspolitik der Gemeinden wurde auch in Zusammenhang mit den Häuslbauern geübt. Es sind Häuser entstanden, die teilweise wild zerstreut sind. Die Bürgermeister sind erste Bauinstanz, sie haben das wilde Bauen genehmigt, um Wählerstimmen zu sammeln.
Die Bürgermeister sind erste Bauinstanz, das ist richtig. Aber für die Raumordnung und die Flächenwidmung ist der Gemeinderat zuständig. Die eigentliche Kritik ist, dass wir mit der Raumordnung erst Mitte der 1970er-Jahre begonnen haben. Vorher gab es kein Instrumentarium der Gestaltung. Damals wurde großzügig irgendwo gebaut. Die Bauern, die finanziell in Schwierigkeiten waren, haben die Raumordnung gemacht. Sie haben Grundstücke für Bauzwecke zur Verfügung gestellt, weil sie dafür mehr bekommen haben als für einen landwirtschaftlich genutzten Grund. Da sind dann diese Dinge entstanden, dass irgendwo draußen Häuser entstanden sind. Das war eine Fehlentwicklung. Der Beginn der Raumordnung war anfangs auch nicht hundertprozentig, sie hat sich auch erst entwickelt. Inzwischen wird sehr genau geschaut, wo gebaut werden darf und wo nicht. Auch deshalb, weil die Zersiedelung die Gemeinden sehr viel Geld kostet.
Derzeit erleben wir, dass die Bauflächen für Wohnhäuser knapp werden. Viele Gemeinden haben schon Probleme, genügend Baugründe zur Verfügung stellen zu können. Der Zuzug in die Städte hat nachgelassen.
Auch durch Corona?
Auch durch Corona. Die Menschen wollen wieder verstärkt auf das Land. Manche Landgemeinden können die Nachfrage nicht bedienen.
Zudem sind die Grundstückspreise enorm gestiegen.
Darum sind natürlich die Preise gestiegen. Inzwischen hat man es auch geschafft, dass die maximale Baugrundgröße, die genehmigt wird, 1.000 Quadratmeter nicht übersteigen darf.
Früher betrugen die Flächen auch 2.000 oder 3.000 Quadratmeter.
Dort, wo die Gründe sehr billig sind, kann man größere Flächen kaufen. Da will jeder mehr. Das habe ich in meiner eigenen Gemeinde erlebt. Dort, wo die Preise hoch sind, wie in Leonding, Traun, Ansfelden oder Thalheim bei Wels, greift der verdichtete Flachbau. Draußen am Land dürfen nun Grundstücke nicht mehr größer als 1.000 Quadratmeter sein. Die Nachfrage und die Grundpreise steigen.
Oberösterreich benötigt mehr Arbeitskräfte. Einer der Wege soll über die Erhöhung der Beschäftigungsquote der Frauen führen. Das ist nur durch mehr Plätze in der Kinderbetreuung möglich. Steht dem nicht die Kinderbetreuungsgebühr am Nachmittag entgegen?
Wir als Gemeinden hätten gemeint, die Einführung einer Ganztagesgebühr wäre besser. Für eine gute Dienstleistung muss eine Gebühr erlaubt sein. Hier kann man in der sozialen Staffelung großzügig sein. Warum soll diese Leistung nicht ein bisschen etwas kosten, wenn beide Elternteile berufstätig sind und gut verdienen?
Die Länder, die eine sehr gute Kinderbetreuung haben wie Schweden Dänemark oder Frankreich, haben ganz schwache Familienleistungen und Kinderbeihilfen, die bei uns sehr gut sind. Diese Gelder fließen dort direkt in die Kinderbetreuungseinrichtungen. Wir wollen beides: die gute steuerliche Behandlung, die gute Familienbeihilfe, das gute Kinderbetreuungsgeld und den kostenlosen Kindergarten. Wir sind im ganztägigen Kinderbetreuungsangebot schlecht. Das brauchen wir nicht schönzufärben. Jetzt stellt sich die Frage, ob die Betreuung beitragsfrei ausgebaut wird, oder ob ein sozial gestaffelter Beitrag verlangt wird? Meine Meinung ist, dass man, sozial großzügig gestaffelt, etwas verlangen soll.