Stadt des Kindes: Gescheiterte Utopie

Stadt des Kindes: Gescheiterte Utopie
Die „Stadt des Kindes" galt als Ideal des sozialreformerischen Wohlfahrtsstaats. Warum misslang das Vorzeigeprojekt?

„Es ist eine traurige Situation“, sagt Anton Schweighofer. Der 87-jährige Architekt, der Anfang der Woche als Ehrengast eine Ausstellung im Architektur Zentrum Wien besucht, wirkt in sich gekehrt. Die Schau hat eines seiner Hauptwerke zum Thema: „Die Stadt des Kindes“, die 1974 in Wien-Penzing unter breiter internationaler Aufmerksamkeit eröffnet wurde. Später wurde das Werk von einer UNESCO-Expertenkommission „als Juwel moderner Architektur“ bezeichnet. 2008 wurde das Bauwerk bis auf zwei Familienhäuser, eine Turnhalle und ein Schwimmbad abgerissen. Schweighofer: „Es ist primitiv, dass eine Kulturstadt solche Qualitätsbauten missachtet.“

Doch die Stadt des Kindes steht noch für viel mehr: Die Anlage war die in Beton gegossene Utopie von einer Idealstadt der Durchlässigkeit und Gemeinschaft. Im Sog der 1968er-Bewegung wollte die Stadt Wien unter der sozialdemokratischen Stadträtin Maria Jacobi einen sozialreformerischen Umgang mit den ihr anvertrauten Pflegekinder gehen. Die Kinder sollten nicht wie bisher in Großheimen als Randgruppe deklassiert untergebracht, sondern in einem offenen, urbanen Umfeld auf das Leben vorbereitet werden.

Stadt des Kindes: Gescheiterte Utopie

Stadt des Kindes: Gescheiterte Utopie

Die Stadt stellte dafür das weitläufige Areal des ehemaligen Ledererschlössels zur Verfügung.

Architekt Anton Schweighofer entwarf unterschiedliche Baukörper mit Turnsaal, Hallenbad, Theater und Schwimmbad. Einladende Freiflächen verbanden die einzelnen Objekte. „Die Gebäude folgten nicht der Typologie des Kinderheimes, sondern einer idealen Stadt, in der Kommunikation und soziale Begegnungen gefördert wurden“, sagt AzW-Kuratorin Monika Platzer, „das aktive und selbstständige Handeln der Kinder sollte unterstützt werden.“

Ursprünglich waren auch Geschäfte und ein Kaffeehaus geplant, um den Austausch mit dem umliegenden Stadtteil zu ermöglichen. Diese Ideen wurden allerdings nicht umgesetzt.

Die Stadt des Kindes wurde schließlich 1974 eröffnet und bot Platz für 300 Kinder. Die Kinder lebten in Familiengruppen zu zehnt am Areal. Und zwar nicht nach Alter und Geschlecht getrennt, wie bis dahin üblich, sondern bunt gemischt mit ihren Erziehungspersonen. Das sollte ein familienähnliches Aufwachsen ermöglichen.

In den Beschreibungen ehemaliger Erzieher und Pflegekinder war die Stadt des Kindes in den ersten Jahren ein Paradies, weil es frei war von der damals vorherrschenden schwarzen Pädagogik. Jugendliche konnten sich in eigene Zimmer zurückziehen und die vielfältigen Räume nutzen.

Dennoch lief etwas schief.

Die familiäre Nestwärme fehlte. Es gab zu wenige, dafür überforderte Erziehende. Dazu kam, dass die Stadt Wien nach zwei Jahren die Kontrolle – wie bei den anderen Heimen auch – der MA 11 übertrug. „Im Grunde hinkte die Jugendwohlfahrt aber den neuen Ideen hinterher“, sagt Sozialhistorikerin Gudrun Wolfgruber. Heimleitung und Erziehende kamen fortan teilweise aus bestehenden Großheimen, die das Konzept von Drill und Ordnung verfolgten anstatt den gewollten partnerschaftlichen Ansatz.

Spätestens mit der zweiten Generation der Pflegekinder, ab Anfang der 80er-Jahre, zogen auch Gewalt, später Drogen und Missbrauchsvorfälle in die Stadt des Kindes ein. Ein ehemaliges Heimkind etwa erzählt in einem Film vom Dokumentarfilmer Marco Antoniazzi, dass es von einem Jugendlichen vergewaltigt wurde. Eine Historikerkommission arbeitete die Vorfälle später auf.

Im Zuge der Wiener Heimreform, bei der alle Heime der Stadt Wien aufgelassen wurden, musste auch die Stadt des Kindes ihre Pforten schließen. Die Stadt Wien übertrug einem Planungsteam rund um die Architekten Peter Weber und Walter Stelzhammer die Nachnutzung. Zunächst wälzten die beiden Pläne für eine Sanierung und Erweiterung. Peter Weber: „Es gab viele Bemühungen, die Gebäude zu erhalten. Allerdings hat der politische Wille gefehlt.“ Die Erhaltung scheiterte schließlich an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Da die Gebäude nicht unter Denkmalschutz standen, wurden sie 2008 unter großem Protest abgerissen. Eine Gruppe junger Architekturstudenten besetzte die Häuser sogar. Schließlich errichteten die Bauträger Mischek und Arwag auf dem Gelände Eigentumswohnungen. „Der Denkmalschutz hat versagt“, sagt Christian Kühn von der TU Wien. „Die Stadt des Kindes hätte zum Prototyp für die Sanierung von Bestandsobjekten werden können.“ Die Grundrisse und Freiflächen wären ideal gewesen für die heute so gefragten neuen Konzepte von Gemeinschaftswohnformen, Clusterwohnungen und betreutem Wohnen. www.azw.at

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