5 Meter am Stadtrand
Caramel Architekten zeigen, wie man sozialverträglich baut und auf engem Raum großzügige Wohnverhältnisse schafft.
Ein fingerbreiter Streifen Land in Liesing. Fünf mal 35 Meter. Hier, am Stadtrand von Wien, sollte ein Einfamilienhaus entstehen – wobei es Hürden zu bewältigen gab. Gemäß den Auflagen mussten die Außenmauern an den Rand gebaut werden, damit sie an die Nachbargrundstücke anschließen. Andererseits galt es eine gesellschaftspolitische Frage zu lösen. Berücksichtigt man das Problem der Zersiedelung, ist ein Einfamilienhaus in dieser Lage schwer zu rechtfertigen. Zwar ist das Eigenheim die beliebteste Wohnform – vor allem in urbanen Zentren ist sie allerdings wirtschaftlich, ökologisch und sozial wenig vertretbar. Wie also entkommt man diesem Dilemma?
Jeden Zentimeter nutzen – lautet die Devise von Martin Haller, Mitbegründer von Caramel Architekten, die den Entwurf vorlegten: "Wir haben ein Pilotprojekt zum Thema Nachverdichtung aus der Aufgabe gemacht. Die Herausforderung lag darin, so dicht zu bauen wie im Geschoßbau und die Qualitäten des Einfamilienhauses, etwa einen eigenen Garten, aufrecht zu halten." Dies ist gelungen: Auf einer Grundstücksfläche von 170 Quadratmetern erstreckt sich eine ebenso große Wohnfläche. Darüber hinaus sind auf dem Bauplatz ein Garten und eine Dachterrasse entstanden. "Wir haben die 170 Quadratmeter nicht einfach verbaut – sondern zusätzliche Flächen im Freien geschaffen." Das Atrium und das Sonnendeck bieten zusammen einen Mehrwert von knapp 80 Quadratmetern. Damit wurde Platz gewonnen, der ursprünglich nicht vorhanden war und eine Bebauungsdichte erreicht, die "einem vier- bis fünfgeschoßigen Wohnhaus entspricht", erklärt Haller.
Ermöglicht wird das durch ein ausgeklügeltes Raum-in-Raum-System. Wohn- und Bürobereiche erstrecken sich auf zwei Ebenen und sind so verschachtelt, dass kein Zentimeter ungenutzt bleibt. Alle Räume sind durch Sichtverbindungen miteinander und nach draußen verbunden. "Das Ziel war ein Ausblick in alle Richtungen. Die Fenster sind deshalb nach Norden und zum Wienerwald ausgerichtet. Auf den Dachflächen an der Südseite sind Photovoltaikelemente angebracht. Zudem gibt es eine Luftwasserwärmepumpe, mit deren Hilfe sich das Gebäude zu 85 Prozent energieautrak versorgen kann", erklärt
Haller.
Der Zugang erfolgt straßenseitig über die ebenerdige Garage. Das Weiß der Fassade setzt sich an den Oberflächen im Inneren fort. Im hinteren Hausteil kommen Eichenparkett und unverputzter, grauer Sichtbeton an den Wänden und an der Decke zum Einsatz.
Zentrum des Hauses ist das Wohn-Esszimmer mit einer Raumhöhe von bis zu sechs Metern. Ober- und Untergeschoß (im Keller befindet sich ein Kinoraum) werden über eine Treppe mitten im Raum erschlossen. Die Anlage verbindet aber nicht nur drei Ebenen – sie ist auch Teil der Küche (siehe Cover). Bis auf eine Ausnahme sind alle Geräte in den Stufen versteckt. Nur ein Pult aus weißem Corian mit Waschbecken und Herd deuten auf die Kochfunktion hin. Die Form des Tresens erinnert an die Kanzel eines DJ’s – und verlieh dem Projekt den Namen "CJ5" – ein Kürzel das für "Cooking-Jay-5-Meter" steht.
Das Einbau-Prinzip ist an den Schiffsbau angelehnt und setzt sich im ganzen Haus fort: Die Küchentreppe geht in das Schlafzimmer über, wo eine Badewanne in den Fußboden eingelassen ist und nur zum Vorschein kommt, wenn man den Boden aufklappt. Der Schlafraum geht in das Büro des Bauherren über, das zugleich Rückzugsort und Garderobe ist. Das Atrium ist Lichtlieferant und eine erweiterte Bade- und Wohnlandschaft. Ein Whirlpool, der auf- und zuklappbar ist, Duschen, eine abgesenkte Sitzlandschaft, eine offene Feuerstelle, Kräuterbeete und Bambusstauden entlang der Mauer finden hier Platz.
Was dieses Projekt zeigt? Wie man einem engen Bauplatz Großzügigkeit verleihen kann. Caramel Architekten zeigen auch, wie ein Einfamilienhaus gestaltet sein muss, damit es sich im urbanen Gebiet rechtfertigt. Von einer Standard-Lösung hält Haller jedenfalls nichts: "Unsere Häuser haben keinen wiedererkennbaren Stil. Sie sind maßgeschneiderte Unikate die auf den Nutzer abgestimmt sind." Wird auf diese Weise nachverdichtet, kann man auch in der Stadt ein Haus realisieren – und zwar "ohne schlechtem gesellschaftspolitischen Gewissen."
2001 gründeten der Vorarlberger Martin Haller sowie die beiden Oberösterreicher Ulrich Aspetsberger und Günter Katherl (von links) das Büro Caramel Architekten. Mit einem stetig wachsendem Team realisieren sie Bauwerke in ganz Österreich. Neben Großprojekten wie dem WIFI in Dornbirn oder dem Science Park in Linz widmet sich das Trio Designstudien und innovativen Einfamilienhausprojekten. Derzeit sind sie vor allem in Deutschland beschäftigt: In Herzogenaurach realisieren sie ein neues Bürogebäude für die adidas-Firmenzentrale „World of Sports“.
| 09/09/2014, 07:00 AM
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